Zensur durch Aufkauf und Klebstoff

■ In Ulm kaufte der Türkisch-Islamische Kulturverein alle 'Spiegel‘-Exemplare auf/ In der Türkei verklebte Seiten

Berlin (taz) — In dieser Woche werden viele Türken in Ulm und Umgebung den 'Spiegel‘ kostenlos lesen können: Vertreter des Türkisch-Islamischen Kulturvereins haben bei den Kiosken alle gelieferten Exemplare aufgekauft. „Die Deutschen lernen was Falsches über die Türkei, wenn sie den 'Spiegel‘ lesen“, erklärt Cahait Ay — und meint damit den zweiten Teil einer Serie über den Völkermord an Armeniern 1915. Insbesondere eine Karte über die ehemaligen armenischen Siedlungsgebiete in der Osttürkei ist für ihn ein Stein des Anstoßes. Außerdem kritisiert er auch die Berichterstattung über Kurdistan: „Wir haben keine Probleme mit den Kurden, nur mit der PKK. Die Kurden sind unsere Brüder.“ Von dem ursprünglichen Plan, die unliebsame Zeitschrift zu verbrennen, ist der Kulturverein abgerückt: Die mehr als 1.000 Exemplare sollen an türkische Bürger verteilt werden — als Andenken an eine geglückte politische Aktion.

Während Ay als Motiv für die zensierende Maßnahme angibt, die deutschen Freunde und Arbeitskollegen sollten die „falschen Informationen“ nicht lesen, erklärt der Vorsitzende des Baden-Württemberger Landesvereins, Ali Kayalar, der Aufkauf sei symbolisch zu verstehen. Bei einer Sitzung der 13 Koordinierungsräte aus ganz Deutschland habe man die Aktion in der letzten Woche in Frankfurt am Main beschlossen— für das gesamte Bundesgebiet. Von dem Vorpreschen seiner Vereinsfreunde in Ulm hatte er gestern angeblich noch gar nichts gehört; man warte auf einen langen Artikel über Kurdistan. Der 'Spiegel‘ berichte nämlich über den Südosten der Türkei völlig falsch: „Keine Frau, kein Kind wurde vom türkischen Militär verletzt“, so Kayalar. Er habe zuverlässige Informationen über das Gebiet — von der türkischen Regierung.

Burkhard Voges, Verlagsleiter beim 'Spiegel‘, ließ gestern 1.500 Exemplare einpacken und nach Ulm schicken: „Wir wollen unsere Stammkunden nicht verprellen.“ Ansonsten nimmt man es in Hamburg gelassen: „Der 'Spiegel‘ polarisiert ja immer. Vor kurzem protestierten Kurden im Foyer gegen unsere Berichterstattung. Jetzt meldet sich die andere Seite.“

Die meldete sich mit einem Zensurakt gegen den 'Spiegel‘ gestern auch in der Türkei: Die Doppelseite über Kurdistan war in fast allen Exemplaren zusammengeklebt. Polizei und Staatsanwaltschaft bestreiten, dafür verantwortlich zu sein.

Der Geschäftsführer der Firma Dünya in Istanbul, die den Vertrieb des Nachrichtenmagazins in der Türkei übernommen hat, schwieg hingegen beharrlich zu dem Vorfall. Die Tatsache, daß direkt an die Abonnenten geschickte Exemplare unbeschädigt waren, spricht dafür, daß der Vertreiber zum Klebstoff gegriffen hat. aje