Neue Dokumente im Prozeß um den Tod eines Wehrmachtrichters
: Deutsche Geschichte vor Gericht

■ Ein Prozeß, dem gegen Mielke vergleichbar: In Hamburg stehen zwei DDR-Rentner, ehemalige Antifas, wegen Mordes an einem Offizier vor Gericht...

Deutsche Geschichte vor Gericht Ein Prozeß, dem gegen Mielke vergleichbar: In Hamburg stehen zwei DDR-Rentner, ehemalige Antifas, wegen Mordes an einem Offizier vor Gericht. Neue Dokumente könnten dem ideologisch geführten Verfahren andere Impulse geben.

VON CLEMENS GRÜN

Ein von der Öffentlichkeit bisher fast unbeachteter Mord- Prozeß vor dem Landgericht Hamburg könnte doch noch die Aufmerksamkeit erhalten, die er verdient: als ein Stück Zeitgeschichte in mehrfacher Hinsicht. Was in den 50er Jahren in einem ersten Verfahren scheiterte, wurde nach dem Fall der Mauer von der Justiz sofort aufgegriffen: Zwei DDR-Rentner, ehemals Antifaschisten, sind der Mordbeteiligung an einem Wehrmachtrichter im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Klaipeda angeklagt. Ein Prozeß also, den erst die Wiedervereinigung ermöglichte.

Neue, auch der taz zugegangene Dokumente werden nun die Planung der 22. Strafkammer des Landgerichts Hamburg durcheinanderbringen. Ursprünglich sollte die Beweisaufnahme mit dem heutigen Freitag beendet sein. Doch die Strafakte im Fall Kallmerten, die laut Aussagen des Moskauer Historikers Jefim Brodski im Archiv des Innenministeriums der Russischen Republik (frühere Archivnummer: 13440) existiert, zeigt, daß entgegen bisheriger Ermittlungen zwei Verdächtigen bereits in der Sowjetunion der Prozeß gemacht worden war und sie verurteilt worden waren.

Die Hamburger Verhandlung des Todes eines deutschen Kriegsrichters in russischer Kriegsgefangenschaft vor bald einem halben Jahrhundert zeigt schon formal die Mängel der deutschen Strafjustiz in eklatanter Weise. Denn hier, wo nicht nur eine singuläre Tat, sondern mehr noch Zeitgeschichte behandelt, verhandelt wird, hat die 22. Strafkammer des Hamburger Landgerichts nur die gleichen Möglichkeiten der Wahrheitsfindung wie bei der Verfolgung eines Eierdiebes. Wo eine historisch vorgebildete Kommission gebraucht würde, die mit Sherlock- Holmes-Geschick zu diesem Justiz- Fall gehörende Strafakten im fernen Moskau und Personalakten alter NS- Richter in Hamburgs Gerichtskellern finden und durcharbeiten sollte, da müht sich eine normale Strafkammer mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen (zuzüglich Ersatzschöffen und -richter für Krankheits-Ausfälle) mit dem Handlungsrahmen für die Verfolgung von ordinären Räubern und Totschlägern.

Schon kurz nach dem 3.10.90 verfaßte Oberstaatsanwalt Duhn eine dicke Anklageschrift gegen die neuen Bundesbürger Karl Ki. (Ostberlin) und Gerhard Bö. (Leipzig), die allerdings kaum auf eigenen Erkenntnissen und Arbeitsergebissen fußt, dafür auf, vorsichtig formuliert: zweifelhaftem Material aus den fünfziger Jahren. Duhn ließ die beiden verhaften. Ersteren in seiner kleinen Wohnung, letzteren in der Klinik, wo sich der alkoholkranke und medikamentenabhängige Bö. zur wiederholten psychiatrischen Behandlung befand. Während Ki. nach wenigen Wochen gegen eine Kaution in Freiheit kam, sitzt Bö. seit eineinhalb Jahren im nicht nur baulich mangelhaften Untersuchungsgefängnis in Hamburg.

Bö., der mit 67 Jahren eigentlich Jüngere, wirkt greise. Er soll einer der beiden gewesen sein, die dem Wehrmachtsrichter Kallmerten in der Nacht zum 4. Juni 1947 im Kriegsgefangenenlager Klaipeda (Litauen), als Vergeltung für eine dreistellige Zahl von ihm zu verantwortenden Todesurteilen, den Kopf einschlugen und die Kehle durchschnitten. Der andere Verdächtigte, Klaus We., Spitzname „Minus“, ist seit Jahrzehnten verschollen. Zu der kränkelnden Erscheinung des Bö., der in der DDR über zwei Jahrzehnte ambulant und stationär psychiatrisch betreut wurde und als Frührentner aus dem Berufsleben schied, paßt die immer wieder durchbrechende Geltungssucht und die immer wieder aufblitzende blühende Phantasie („Im Moskauer Gefängis traf ich die Mörderin Lenins, die für alle Zellen Schlüssel besaß.“). Außenstehende sehen in ihm einen Querulanten, er selbst interpretiert diese Eigenschaft als „Widerstand gegen Diktaturen“. Eine Verurteilung zu zwei Jahren Zuchthaus 1958 in der DDR wegen „schwerer fortgesetzter staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ wird ihn in dieser Selbsteinschätzung bestärkt haben.

Ganz anders als Bö. wirkt der zweite in Hamburg Angeklagte. Karl Ki. wirkt mit seiner imposanten Statur und seiner Vitalität jünger als die ausgewiesenen 72 Jahre. Während Bö. in seinem Leben offenbar immer auf der Verliererseite stand, kann der intelligente, wortgewandte und immer um Aufrichtigkeit bemüht wirkende Ki. auf eine Karriere im SED- Staat zurückblicken. Der gelernte Vermessungs-Ingenieur war als Abteilungsleiter im Bildungsministerium der DDR zuständig für die Grundfonds und das Materialwesen und, nach seinem Herzinfarkt 1980, noch jahrelang „Persönlicher Referent des Stellvertreters des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen für Planung und Ökonomie“. Stark geprägt hat ihn, wie er als junger Mann von der Gestapo verhaftet wurde, weil er, eine halbe Stunde zuvor, in einem unbedachten Augenblick als geheim eingestufte Brückenbau- Pläne bei einem Kneipengespräch herumzeigte.

Später wurde er im mörderischen Krieg in der sogenannten „Kurland- Armee“ eingesetzt, geriet, wie Hunderttausende, bei der Kapitulation am 8. Mai 1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Erst im Gefangenenlager begann er mit seiner individuellen Suche nach Wahrheit und wurde mit der Lektüre von marxistisch-leninistischen Klassikern in der Lager-Bücherei konfrontiert. Hier formte sich sein heutiges Weltbild. Damals, im Lager, schloß er sich der „Antifa“ an, einer antinazistischen, lockeren Sammlungsbewegung, in der sich von liberal über sozialdemokratisch bis kommunistisch orientierte Insassen zusammentaten — viele aus Überzeugung, viele wohl auch nur in der Hoffnung auf Wohlgefallen bei der sowjetischen Siegermacht. Die „Antifa“ brachte, neben politischen Schulungen, auch kulturelle und sportliche Aktivitäten ins triste Lagerleben. Ki. stieg innerhalb von zwei Jahren zum Anführer der Lager-Antifa auf.

Diese „Antifa“ wurde besonders durch einen Kreis um einen der Lagerinsassen, den ehemaligen KPD- Reichstagsabgeordneten Willi Agatz (später auch stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft „IG Bergbau“ in Essen und KPD-Bundestagsabgeordneter), initiiert, der den Krieg nur durch den Fronteinsatz im „Bewährungsbataillon“ 999 überlebte.

Diese „Antifa“ zu bekämpfen, noch ein halbes Jahrhundert später, ist dem beamteten Oberstaatsanwalt Duhn augenscheinlich ein wichtiges Ziel. Zwei Mittel nutzt er dazu. Zum einen streut er eine politische Denunziation — in der von ihm verfaßten Anklageschrift gerät die nicht parteipolitisch gebundene und äußerst locker organisierte Sammlungsbewegung zur straff geführten „kommunistische(n) Agitations- und Aktionsorganisation“.

Zum anderen klagt er den ehemaligen Leiter der „Antifa“ Karl Ki., der zum Zeitpunkt der Tötung des Wehrmachtsrichters nicht einmal eine Woche im Amt war, als geistigen Urheber und realen Organisator der Tötung an. Und weil auch „Anstiftung zum Mord“ wie alles andere, außer Mord selbst, nach so langer Zeit verjährt wäre, belegt Duhn auch Ki. mit dem Stigma eines Mordverdachts.

Vielleicht hängt des Oberstaatsanwalts Berufseinstellung auch mit seinem Lehrmeister, dem ehemaligen Hamburger Landgerichtsdirektor Kurt Steckel zusammen, bei dem Duhn in seiner Ausbildungszeit ein Referendariat absolvierte. Steckel hat in einer nur besessen zu nennenden Art in der Kallmerten-Angelegenheit 1952 sage und schreibe 275 Zeugen aufgelistet, die er meistens selbst und überall in der Bundesrepublik vernahm. Diktion, Dramaturgie und Inhalt dieser Steckel-Protokolle gleichen sich so, daß Prozeßbeobachter davon ausgehen, er habe den meisten Zeugen die Aussagen in den Mund gelegt. — Der Zeuge Eugen Kessler, bis 1975 Vorsitzender der Lagergemeinschaft der Dachau- Häftlinge und bis heute Mitglied im VVN-Vorstand, hatte schon während der Befragung durch Steckel ein ungutes Gefühl — und stenografierte das Verhör mit. Ein Vergleich mit Steckels Protokoll ergibt gravierende Differenzen — ganze Passagen, die Steckel offensichtlich nicht in den Kram paßten, fehlen. Und der Cellist Oswald Joachim fühlte sich beim Verhör von Steckel derart angegriffen, daß es ihm entfuhr: „Bin ich hier bei Herrn Freisler?“

Bei einem ordentlichen Gericht führt der Vergleich zu dem Vorsitzenden Richter an Hitlers „Volksgerichtshof“ quasi automatisch zu einem Verfahren wegen Beleidigung — wer läßt sich schon gern als Verbrecher in Richterrobe titulieren? Steckel war da härter im Nehmen. Denn bei eben diesem Volksgerichtshof in Potsdam, das ergaben Nachforschungen in den Personalakten des in den Siebzigern verstorbenen Richters, war Steckel in den letzten Monaten des III. Reichs als Staatsanwalt tätig — ein Umstand, den er bei seiner Wiedereinstellung in die Dienste der Hamburger Justiz nach Kriegsende zu verschweigen wußte. Er offenbarte dies erst Jahre später, um mit einer längeren Beschäftigung in der deutschen Justiz auch eine höhere Besoldungsstufe erreichen zu können.

Seine Tätigkeit am Sondergericht in Königsberg hat er zeitlebens verschwiegen. Erfahren haben die Prozeßbeteiligten von diesem höchst blamablen Detail erst durch einen Beweisantrag von Ki.s engagiertem Rechtsanwalt Johann Schwenn. Blamabel deshalb, weil Beschäftige an diesen NS-Gerichten gleich 1945 aus der Hamburger Justiz ausgestoßen wurden. Sie boten nicht die hinreichende Gewähr für rechtsstaatliche Verfahren.

Zurück zu den Angeklagten: Bisher hatte Gerhard Bö. mit seinen Einlassungen bei Staatsanwaltschaft und Gericht keinen guten Eindruck gemacht. Seine Behauptung, nur der nach dem Kriege verschollene Klaus We. habe den Kallmerten getötet, dagegen habe seine eigene Selbstbezichtigung (im Frühjahr 1960 in der DDR gegenüber staatlichen Stellen) nur dazu gedient, mit einer „antifaschistischen Tat“ Vorteile im sozialistischen Staat anzustreben, wurde als Schutzbehauptung gewertet. Bö.s Behauptung zu einem Kurzgeständnis, das Kallmerten unmittelbar vor seinem gewaltsamen Tod verfaßt haben soll (samt Zahlen über die von ihm verhängten Todesurteile), paßte so gar zum Bild des selbstbewußten Oberstabsrichters, zumal es auf Bö.s bekannt dramatische Weise ausgeschmückt wurde („blutbespritztes Einzelblatt“). Nicht einmal das von Bö. behauptete Gerichtsverfahren gegen Bö. und We. in der Sowjetunion 1947 wollte man ihm so recht glauben.

Die neuen, von Jefim Brodski an die taz weitergegebenen Dokumente belegen jetzt einige von Bö.s Behauptungen. Enthalten ist z.B. jenes Kurzgeständnis Erich Kallmertens (Blatt 31, siehe mittlere Abbildung). In einer Charakterisierung des „ehemaligen Kriegsgefangenen Kallmerten, Erich Friedrich“ wird der Oberstabsrichter „ohne Parteizugehörigkeit“ als ein zurückhaltender Mensch geschildert, den die Leitung des Lagers 57 allerdings „heimlicher faschistischer Propaganda“ verdächtigte. Wichtig für den weiteren Verlauf des Verfahrens schließlich könnte das Blatt 41 (siehe Abbildung links unten) werden. Unter der Überschrift „Erklärung“ bezichtigen sich „We., Klaus u. Bö., Gerhard, ... den Kallmerten wegen seiner Kriegsverbrechen an Russen, Esten, Letten, Litauern, Polen u. vielen deutschen Genossen, der gerechten Strafe überführt zu haben.“ Beide haben auch unterschrieben — in kyrillisch. Doch die Schreibschrift ähnelt vielmehr We.s Unterschrift als der von Bö. War Bö. also vielleicht doch nicht die treibende Kraft, als die er bisher dargestellt wird? Und welche Auswirkungen haben diese Dokumente auf die Anklage gegen Ki.? Nach den Moskauer Aktenfunden wird der Prozeß eine neue Richtung bekommen.