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„Es ist sehr schön in Deutschland“

■ Polenmarkt in Bremen: Samstag Weser, Sonntag Bürgerweide / Mühseligkeiten, Habseligkeiten, Hoffnungen

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Flohmarkt, Busse

Bürgerweise, 8.30 Uhr: noch wenig los

Es ist lausig kalt am Sonntagmorgen. Ein eisiger Wind treibt Hagelschauer vor sich her. Es ist sechs Uhr, und auf der Bremer Bürgerweide öffnet sich die Tür eines Reisebusses. Das verschlafene Gesicht einer älteren Frau erscheint, sie steigt die Stufen hinunter auf das nasse Pflaster, reibt sich die Hände und gähnt. Aus dem Inneren des Busses hört man das Geräusch sich öffnender Reißverschlüsse. Hinter den beschlagenen Scheiben werden schemenhaft Bewegungen, Profile sichtbar, und schon bald steigen weitere Frauen und einige Männer ins Freie, schlagen sich mit den Armen Wärme in den Leib, reiben sich die verschlafenen Augen.

So geht es jetzt an allen Reisebussen, die in einer Reihe geparkt zwischen Stadthalle und Bahnhof stehen. „Szczecin“ steht auf der Anzeige über der Windschutzscheibe, oder „Koszalin“. Einer der Fahrer wirft den Motor an, und für einen Moment verschwindet das Heck in einer dicken schwarzen Rußwolke. Schnell treibt der Wind die Schwaden auseinander, die aus dem Auspuff quellen, während der kalte Dieselmotor laut und altersschwach vor sich hinnagelt. Ein paar Minuten später stehen fast alle vor ihren Bussen, dick vermummt, Schals vor die Gesichter gezogen, mit dem Rücken zum eisigen Wind.

Übernächtigt und verfroren sehen sie aus. Die meisten haben schon die zweite Nacht im unbeheizten Bus verbracht, zusammengekauert, in Wolldecken und Schlafsäcke gewickelt.

Samstag nachmittag im Schlachthofcafe: „Ich habe 24 Jahre im selben Betrieb gearbeitet“, erzählt Jadwiga W. aus Koszalin, „in den letzten Jahren sogar als Meisterin in der Elektromontage. Und jetzt kriege ich 620.000 Zloty Arbeitslosengeld, das sind 75 Mark. Davon kann man einfach nicht leben.“ Jadwiga W. schluckt das Gefühl der Erniedrigung wieder hinunter, das mit den letzten Worten in ihr aufgestiegen ist, wischt sich verstohlen die Träne von der Wange und sagt: „Ich kann doch nicht monatelang von einer Tochter zur nächsten laufen, bloß um einen Teller Suppe. Die Kinder sind doch selbst arbeitslos. Ich mußte was machen. Da bin ich eben auch hierhergefahren.“

Drei polnische Frauen und ein Mann sitzen uns gegenüber, und unsere Übersetzerin Mira hat Mühe, den Redefluß zu bändigen, um wenigstens das Wichtigste ins Deutsche zu bringen. Jadwiga W. schaut von einem zum anderen, als könnte sie die übermächtige Last für einen Moment absetzen, wenn sie nur erzählt, wieso sie nach Bremen gekommen ist. Eigentlich bliebe sie viel lieber zu Hause bei den Enkeln, sagt sie. „Lange halte ich das auch nicht aus, diese Strapaze an jedem Wochenende.“ Die Augen werden immer müder, wenn sie das sagt. Sie ist jetzt 48 Jahre alt und weiß nicht, wie ihr Leben weitergehen soll.

Der Zoll als Zigaretten-Millionär: Der Bremer Zoll hat am Wochenende wieder direkt auf dem Flohmark zugeschlagen. Resultat: 154.860 geschmuggelte Zigaretten, 73 Liter unverzollter Alkohol, Kaviar, Bernsteinketten, Ferngläser... Neu im Angebot der reisenden polnischen Händler: Zigarettenstangen, die sorgfältig mit Silberpapier und Damenstrümpfen ausgestopft sind. Der Zoll bittet um den Hinweis, daß sich auch die Käufer unverzollter Ware strafbar machen. Zigarettenschachteln ohne Banderole etwa sind heiß... In der vergangenen Woche hatte der Zoll nur auf der Autobahn Busse abgefangen und 177.715 einkassiert.“ (Aus der taz vom 9.3.)

Die Polizei ist heute nicht gekommen. Dabei ist sie in den letzten Wochen immer sonntags zwischen sechs und sieben Uhr aufgetaucht. Da war es besser, man war schon wach. „Die haben ja auch die Sachen von denen durchgewühlt, die bei Verwandten geschlafen haben“, erzählt eine jüngere Frau, die im Eingang ihres Busses auf einem kleinen Gaskocher Tee bereitet. Daß die Polizisten an diesem Sonntag nicht gekommen sind, liegt vielleicht daran, daß die meisten Busse schon am Samstag gefilzt worden sind. „Wir sind viermal kontrolliert worden“, sagt Jerzy M. und gähnt. „Erst am Freitagabend an der Grenze, dann auf der Autobahn in der Nähe von Braunschweig, dann gestern morgen hier in Bremen und zuletzt am Mittag an der Weser.“ Das sei aber normal, das erlebe er an jedem Wochenende. „Am schlimmsten sind die Polizisten in der ehemaligen DDR. Da gibt es richtige Faschisten. Deshalb fahren wir lieber hierhin“, erzählt ein anderer. „Aber schreiben Sie um Himmels Willen meinen Namen nicht. Und keine Fotos.“

„Direkt nach der Grenzöffnung bin ich nach Berlin gefahren, jeden Samstag, ungefähr 30mal. Da hat es nie Probleme mit dem Zoll gegeben.“ Jerzy M. redet sich warm. „Einmal Bremen und schon sind die sieben Stangen Zigaretten weg. Dann hab ich erstmal ein Jahr Pause gemacht“, sagt er. „Jetzt bin ich wieder das zehnte Mal unterwegs: Duisburg, Essen, Bremen. Aber jetzt habe ich nur noch die zugelassenen Mengen dabei.“ Jerzy M. sitzt zusammen mit Jadwiga W. und zwei anderen Frauen vor den dampfenden Kaffeetassen im Schlachthof. Nach der kurzen Rage wegen der Polizei und des Zolls, die alle am Tisch ungerecht finden, wird seine Stimme wieder leiser. „Mein Sohn ist jetzt fünf. Er kennt mich kaum noch. In der Woche gehe ich zur Arbeit, und jedes Wochenende bin ich unterwegs, weil es hinten und vorne nicht reicht. Meine Frau ist seit eineinhalb Jahren arbeitslos. In einem halben Jahr macht mein Betrieb auch zu.“ Jerzy M. ist Ingenieur in einem Maschinenbauunternehmen. Wenn man sein monatliches Gehalt umrechnet, kommt man auf knappe 120 Mark.

Sieben Uhr früh auf der Bürgerweide. Taschen werden aus den Bussen getragen, bei den wenigen PKWs nebenan klappen Kofferraum-Hauben auf. Von vollgestopften Rückbänken der Polski- Fiats werden Plastikplanen gezerrt und auf dem naßkalten Pflaster ausgebreitet. Nebenan auf dem Flohmarktgelände nehmen die Händler ihre Stellplätze ein. Erste Kunden streifen umher auf der Suche nach dem sensationellen Schnäppchen, und bei der Wurstbude wird die erste Kanne Kaffee gebraut. In der kleinen polnischen Kolonie vertreibt die Geschäftigkeit die Kälte. Mit klammen Fingern werden jenseits der Flohmarktgrenze die wenigen Waren auf Decken und Planen zum Verkauf drapiert. Langsam belebt sich der Markt, dessentwegen viele mehr als 500 Kilometer gefahren sind.

„Das sind Scheiß-Reisebüros, Pseudobüros sind das.“ Jerzy M. ereifert sich. „So viel Geld nehmen sie uns ab, und was bekommen wir dafür? Wir haben keine Waschgelegenheit, keine Heizung, nichts. Für nur zehn Mark pro Nacht könnten wir auf dem Campingplatz stehen.“ Alicija P., wie Jadwiga W. aus Koszalin aber mit einem anderen Bus gekommen, macht ein kritisches Gesicht. „Zehn Mark, das ist eine Menge Geld“, sagt sie schließlich. „Wie soll ich das denn bezahlen? Wo doch die Fahrt an sich schon so teuer ist.“ Sie hat 400.000 Zloty (fast 50,-DM) für die Busfahrt bezahlt, andere 350.000. Jerzy M. kommt aus „Schönlanke, das ist neben Schneidemühl“, als machten die ehemaligen deutschen Namen der Ortschaften einen guten Eindruck. 420.000 Zloty hat er bezahlt, das ist fast sein halber Monatslohn.

Jerzy M. steht hinter der Plastikplane, auf der er allerlei Kristallwaren ausgebreitet hat, und zuckt mit den Schultern: „Das ganz große Geschäft läuft doch gar nicht hier bei den Bussen. Das große Geld machen die mit den LKWs und den Schiffen. Die fahren über die Grenze und laden ganze Kisten Schnaps und Zigaretten ein. Dagegen sind wir doch kleine Fische.“

Alicija P. hat früher in einer Telefonzentrale gearbeitet. Bevor ihr Betrieb pleite ging, wechselte sie und fährt jetzt einen Kleinbus. Sie verdient nicht ganz schlecht: 130 Mark im Monat. Sie lacht uns zu, als sie uns in der Käufermenge ausmacht, die um 10 Uhr schon beträchtliche Ausmaße angenommen hat. Sie verkauft Kinderkleidung, Herrenhemden und Decken mit Spitzenrand. Der Mann zur rechten hat Uniformen der glorreichen Sowjetarmee im Angebot, der zur linken Angeln, Aale und Werkzeug für den Feinmechaniker.

„Das find ich nicht in Ordnung, daß die rausgeschmissen werden.“ Ein Mittfünfziger auf dem Flohmarkt ereifert sich. Der Polenmarkt nebenan ist seit Wochen das Top-Gesprächsthema zwischen den Händlern. Der Weser- Kurier hatte in einen Artikel über die Schmuggelwaren spekuliert, der Innensenator denke an die Abschaffung des Flohmarktes. „Die sollen Strafe zahlen, wenn sie schmuggeln oder Neuware verkaufen. Sonst können die meinetwegen ruhig kommen.“ 'Neuware', das ist das zentrale Wort überall da, wo wir auf dem Flohmarkt nach den Polen fragen. 'Neuware' darf nicht verkauft werden wegen des Ladenschlußgesetzes. Eine Händlerin sagt: „Ich bin jetzt seit zwölf Jahren jeden Sonntag hier. Bei uns wird immer kontrolliert, daß wir keine Neuware verkaufen. Und sehen Sie sich mal bei denen die Kleider an, die sie verkaufen. Alles neu. Warum dürfen die und wir nicht?“ Die Stimmung wird feindselig. Daß 'die dürfen', das ist am schlimmsten. „Die haben uns ja auch rausjeschmissen, damals aus Schlesien“, der Mann von der Marktaufsicht stößt zu der kleinen Diskussionsgruppe. „Was da alles kommt, das macht Euch Euren Flohmarkt kaputt.“

„Es ist sehr schön in Deutschland.“ Jadwiga W. sieht sich im Cafe um und seufzt. Sie konnte gar nicht glauben, daß das einmal der Schlachthof gewesen sein soll. „Ich wünsche Euch keine 40 Jahre Kommunismus.“ Und Jerzy M. meint: „Genau, das ist schlimmer als Faschismus.“ Die Frauen widersprechen heftig: „Hör auf, das war Krieg. Ach, aber früher war alles besser.“ Damit sind nun die anderen ganz und gar nicht einverstanden. „So ein Unsinn“, sagt Jadwiga W., „was erzählen Sie. Aber schreiben Sie ruhig auf, was mit uns ist. Der Walesa hat uns so viel gebracht, daß uns jetzt der Kopf raucht.“

„Zeigen Sie mal Ihren Presseausweis. Wenn Sie hier eine Befragung veranstalten, muß ich das wissen. Der Flohmarkt ist eine Privatveranstaltung.“ Marktmeister Wagenknecht ist nervös. Das Gerede um eine mögliche Auflösung des Marktes hat ihm zugesetzt. Er freut sich, daß die Händler eine Unterschriftenkampagne für den Erhalt des Flohmarktes organisiert haben. „Wo die Polen jetzt stehen, damit haben wir nichts mehr zu tun“, sagt er. „Als die hier waren, haben wir sie immer wieder runtergeschmissen. Ich darf das nicht zulassen. Die verkaufen nur Neuware, und da steigt mir die Gewerbeaufsicht aufs Dach.“ Polizei und Zoll seien viel zu lasch, meint er. Es müßten viel mehr Kontrollen stattfinden. „Als ich vor vier Wochen da mal hingegangen bin, ist einer mit dem Messer auf mich los. Nachmittags sind die stramm wie die Russen. Da hab ich gesehen, daß ich Land gewinne. Aber die Polizei ist nicht mal gekommen.“

„Liebe Frau, wir sind gekommen von Rußland. Wir haben selbst kein Geld nicht. 50 Mark, mehr nicht.“ Letztlich wechselt die Lederjacke doch für 55 Mark die Besitzerin. Es ist fast Mittag. Die Käufer schieben sich an den Würsten und Tütensuppen, den Kristallvasen und Ferngläsern vorbei, kaufen hier ein Hemd für 15 Mark, da eine Mütze von der Afghanistan-Truppe für den selben Preis. Und ganz versteckt wird eine Stange Zigaretten aus der Reisetasche gezogen.

14 Busse, einige PKWs waren es an diesem Wochenende: nach einer langen Fahrt zwei Nächte in denselben Klamotten, zwei Nächte in einem unbeheizten Bus. Wozu das alles? In Polen kostet eine Stange Zigaretten zwischen 10 und 15 Mark. Auf der Bürgerweide bezahlen die Kunden 18 bis 20. Jochen Grabler

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