Ein alter Kurzweiler

■ Der Alleinunterhalter und notgedrungene Hindu Kurt Mülberger kriegt mit seiner Orgel jeden Seniorennachmittag flott

„Das ist hier eine unglaubliche Dankbarkeit.“ Ein Pärchen in der Vahr, bewegt von Mülberger

Er kann alles, was ankommt. Mehrere tausend Titel hat er im Kopf. Bei Bedarf kann er stundenlang nur Wiener Lieder spielen oder nur Shanties. Er sitzt den ganzen Tag am Radio, um seine Vorräte zu ergänzen. Wenn er hört, was evtl. ankommen wird, schaltet er sofort sein Bandgerät an. Später schreibt er danach die Noten und die Texte auf Blätter und sortiert sie in Hüllen zum weiteren Gebrauch.

„Jetzt könnt ich langsam einen Nachfolger gebrauchen“, sagt Kurt Mülberger, „der das alles erbt“, die Noten, all die Ordner, und das gefährdete Imperium der

hierhin die tanzenden

Alten, bitte

Kontakte: Ganz Bremen samt einem Umkreis von 60 Kilometern wird von Mülberger bespielt; auf Hochzeiten, Betriebsfesten, auf Tanztees und Geburtstagen kursiert er jahrauf, jahrab mit seiner Orgel. Wie lang schon? Zwanzig Jahre? „Mehr. Aber bleiben Sie mir weg mit dem Alter. Niemand will einen alten Musiker haben.“

Seniorennachmittag in der Vahr. So ein Tag, so wunderschön. Bist du einsam heut nacht. Pause. „Nicht zu viel, nicht zu schnell“, sagt Mülberger. „Sonst fang ich immer an mit La Paloma, das macht die Leute weich, und dann

sofort rauf mit'm Tempo. Hier ist es schwieriger.“ Wie leicht geht ein Tanztee entzwei. Keine Sperenzchen. Ihm, Mülberger, obliegt die Stimmung des Saals; er ist ihr untertänigster Regent. „So, jetzt singen wir alle mal die dritte Kata-Strophe!“ Zwischen seinen Nummern schmeißt er Scherzchen wie Kamellen, und die Alten strahlen und stülpen ihm die Schirme ihrer Dankbarkeit entgegen.

Zum Singen, sagt er, hat er sich zwingen müssen: „Reine Gewohnheit.“ Man lernt, was sein muß, „auch das Ansprechen. Als junger Mensch hab ich gar nicht sprechen können mit Leuten.“ Aber immerhin hat er einen gewissen Klavierunterricht mit sich geschehen lassen. Als Jahre später seine kleine Offsetdruckerei einging, war er froh drum. Heute spielt er rein gar nicht mehr zu seinem Vergnügen, „nichts, nie. Ich spiel die neuen Lieder einmal durch, ob sie stimmen, und fertig. Alles hat Grenzen.“

Aber manchmal träumt es doch in ihm: angenommen er hätte eine Barpianisten-Stelle inne, wo von

Kurt Mülberger: Seit acht Jahren einmal im Monat in der AWO-Tagesstätte VahrFotos: Jörg Oberheide

großen Bällen nebenan die Leute zu ihm in die Ecke schweifen, und er macht ihnen „die Schmusemusik, das wär was für mich!“ Filmmelodien, bißchen My Fair Lady, „und Gershwin!“

Freuden? „Mal kommt schon auch einer und sagt: Schön war's, hier haste hundert Mark drauf!“ Oder all die Millionäre, denen er schon aufgespielt hat, „der Chef von American Food drunter“ oder auch damals, als „einer aus'm Fahrdienst“ Geburtstag hatte: „der halbe Bremer Senat! „ — damals, am hellichten Karfreitag 1991 im „Schimmelhof“; ich soll's aber nicht schreiben. Als wär noch zu befürchten, daß ein halber Senat über seine Sünden ins Nichts stürzt.

Einmal war er in Indien. Lernte Sabriti kennen, die Hindufrau. „Ist ja nicht leicht“, sagt Mülber

hierhin bitte das Foto

von dem Mann

an der Orgel

ger, „dort zu heiraten“. Man ließ ihm die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: drei Monate warten oder aber Hindu werden. „Ich konnte ja unmöglich drei Monate bleiben“, sagt er. Wurde also Hindu. Taufe beim Brahmanen, Mülberger in wallenden Tüchern, „muß man nicht so eng sehen“, sagt er. Wie ist jetzt sein Hindu-Name? Annayaputra, „der Alleinunterhalter“? Vergessen, ihn zu fragen. Gleich darauf Hochzeit; „nach Hindu-Ritual“, sagt Mülberger. Er also mit seiner Sabriti, beide trugen die enormen Vermählungskronen der Hindus; man hat ihm die Füße gewaschen (“dort ist ja der Bräutigam ein Gott!„) — und abgetrocknet mit ihrem Haar. Drei Tage dauerten die Feiern, und endlich einmal kümmerten sich andere um die Musik.

Jetzt lebt Sabriti seit zehn Jahren zufrieden, sagt er, mit ihm in

Deutschland „und wundert sich bloß immer noch, daß ich ihr nicht jedes Jahr eine Urlaubsreise zahlen kann.“ Beider Sohn, zehn Jahre alt, will jetzt aus dem Klavierunterricht aussteigen. Kein Nachfolger? „Nein“, sagt Mülberger und kommt nun doch ins Sinnen. „An sich ein lieber Junge.“ Manfred Dworschak