Drahtseilakt der Weisheit(s)

„Hoch auf dem Seil, wie sind sie herrlich anzuschaun“ — Die zu DDR-Zeiten gefeierte alte Artistenfamilie „Weisheit“ versucht, auch im neuen Deutschland nicht die Balance zu verlieren  ■ VON HENNING PAWEL

Die Zugvögel kommen wieder. Mit ihnen eine in Vorwendezeiten sehr geliebte Spezies, die Hochseilartisten. Sechs profilierte Truppen gab es im einstigen Paradies der Unterhaltungskunst DDR. Eine davon die Hochseiltruppe „Geschwister Weisheit“ aus Gotha. Sie lag in ihren Leistungen wie in der Publikumsgunst meilenweit vor den anderen. Geliebt von vielen, gehaßt und gefürchtet von der Konkurrenz. Der Haß ist geblieben, besonders bei jenen, die aufgeben mußten. Sie neiden den Konkurrenten sogar das Überleben.

Doch auch die Liebe der Leute hält an. Der Briefträger bringt noch täglich Berge von Fanpost. „Wann kommt ihr wieder?“ Sie würden schon gerne kommen, die Weisheits. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Kommunen keine Mittel mehr. Jedenfalls nicht für Seiltänzer. Und schon gar nicht für solche aus dem Osten. Städtejubiläen gibt es immer noch. Auch große Firmen feiern nach wie vor rauschende Feste. Halt ohne Artisten. Vielleicht ist es aber auch ihr Genre, das gar zu aktuelle Assoziationen befördert. Ein Balanceakt ist das Wirtschaften neuerdings in Deutschland allemal. Für Kommunen wie für Wirtschaftsunternehmen. Das Engagement von Seiltänzern könnte gehässig als Eingeständnis fataler kommunaler oder betrieblicher Situationen gedeutet werden.

Dennoch, trotz nicht gar zu rosiger Aussichten am Artistenhimmel steigen die Weisheits täglich zu ihm hinauf. Jedenfalls ein Stück weit. Auch im heimatlichen Winterquartier in Gotha. Täglich trainiert die gesamte Truppe. Von Chef Rudi, 49, bis zum Enkel Augustin, 4, begibt sich alles jeden Morgen diszipliniert hinauf auf den Zwirn, der im Trainingssaal gespannt ist. Unerbittlich fordernd der Boß, flankiert von Bruder Heino, 47, der zweiten Säule, auf dem das Unternehmen Weisheit ruht. Heino, als Trainingsmeister von den Seinen gefürchtet, als aktiver Artist, zärtlicher Vater, Großvater und Onkel heißt geliebt, ist neben dem unterkühlt wirkenden Rudi das Lächeln des Unternehmens. Ein Spaßvogel, der selbst den gefährlichsten Trick noch mit Humor absolviert. Der mächtige untersetzte Mann läuft trotz des Gewichts, 86 Kilo, und seines Alters noch immer mit unglaublicher Leichtigkeit übers Seil. „Unser Kasten am Himmel“, teilt mir eine seiner vier Töchter vergnügt lächelnd mit.

Sie brechen in diesen Tagen auf zur 92er Tournee ins vereinigte Vaterland. Bald stehen irgendwo zwischen den Alpen und der Ostsee wieder ihre Wohnwagen. Daneben in den Himmel ragende Masten mit Stahlseilen verbunden. Auf diesen, in 30 Metern Höhe, 16 Leute, Erwachsene und Kinder. Sie gehen spazieren, schlagen Hand- oder Kopfstand, Saltos, fahren Fahrrad, backen Eierkuchen, stellen sich zu in der Welt einmaligen Hochseilpyramiden übereinander und blasen im einarmigen Handstand in 62 Metern Höhe auf der Trompete Il Silentio. Sie donnern mit drei schweren Motorrädern gleichzeitig auf drei Seilen zum Mast hinauf, drehen sich unangekündigt und für das Publikum nervenzerfetzend mit den Maschinen mehrfach um die eigene Achse. Es folgt auf vier Seilen ein zum Rennwagen frisierter Trabant 601. Auf dessen Dach und Heck zwei Artisten in Posen, die den Zuschauern das Blut gefrieren lassen. Nicht aber den Akteuren. Die nehmen es locker. Noch immer konkurrenzlos, diese Hochseiltruppe, in der einstigen DDR wie in Deutschland. Doch nicht mehr sorgenlos.

Das Interesse des Publikums ist ungebrochen. Nicht aber das der Veranstalter. Und wenn doch, dann nur mit Gagenangeboten, die in keinem Verhältnis zum tödlichen Risiko stehen.

„Der Osten hat es schwer“, sagt Rudi Weisheit, „und der Westen tut sich schwer. So wie alle Branchen gegenwärtig bei uns mit Sonderangeboten fertiggemacht werden, oft mit unglaublichem Mist, geschieht das auch in der Artistik. Ein Ziegenbock und eine Zeltplane genügen, um im Westen eine Zirkuslizenz zu bekommen. Damit wird der Osten dann heimgesucht: „Zirkusunternehmen aus dem Westen“. Die Kommunen werden von den Dumpingpreisen verlockt. Jammern dann zwar über die unsäglichen Leistungen. Ihr Bedarf an Artistik aber ist erst einmal und für lange Zeit gedeckt. Seriöse Unternehmen wie das unsere und zahllose andere, einst klangvolle Artistengruppen, haben das Nachsehen. Im Westen dazu der erniedrigende Zweifel: „Aus dem Osten kann doch nichts Gescheites kommen.“ Der eine oder andere will uns mitunter eine Chance geben. Doch ob man das Leben riskieren soll für eine zweifelhafte, völlig unterbezahlte Chance in einem Vorort von Wanne-Weikel?“

Früher absolute Stars, heute kaum Mucken

Der Holliday Park im pfälzischen Haßloch. Hier nun endlich einmal Fairness den Artisten aus dem Osten gegenüber. 100 Tage standen sie im vergangenen Jahr dort und hatten täglich drei sehr beachtliche Auftritte. Auch für dieses Jahr wurde wieder mit dem Unternehmen abgeschlossen. Doch immer auch die Erinnerung an jene Zeit vor der Wende. An die so blühende, weil Aushängeschild, DDR-Unterhaltungskunst. Nirgends Artisten, die in Not waren. Eine Mucke (Auftritt) wurde immer noch gefunden und bezahlt. Die Renten und die Sozialversicherung waren gesichert. Die Konzert- und Gastspieldirektion garantierte die Auftritte. Das Publikum, jedenfalls der Weisheits, zählte Zigtausende. Zu den großen FDJ- oder Staatsfesten in Leipzig, Berlin, Karl-Marx- Stadt, gar Hunderttausende. Die Stadien waren ausverkauft.

Eigentlich war Sensationsdarstellung im Lande DDR aus mancherlei Gründen verpönt. Sensationell wollten immer nur die Führungsgreise sein. Zum anderen — der virulente Materialmangel. Jedes Unternehmen, auch ein artistisches, hat Verschleiß und in einem Land, in dem alles knapp ist, reichen auch die Stahlseile nicht. Allein die Kostüme — Purzelbäume, um sie zu bekommen. Die Ehefrauen Traudel, 46, Erika, 44, und Schwester Marlies, 40, sämtlich Artistinnen von Weltklasse, schneiderten fast alles selbst. Nervenzerfetzender als der einarmige Handstand der Söhne André, 23, und Peter, 29, in 62 Meter Höhe war das Organisieren von ein paar Glitzersteinen für das Trikot. Haarsträubend besonders das technische Management in DDR-Zeiten. Nicht ein einziger neuer Lkw konnte erworben werden. Lastwagen waren „Sonderbedarfsträgern“ vorbehalten. Jedes einzelne Zugfahrzeug mußte von den Weisheits als Wrack erworben und eigenhändig aufgebaut werden.

Die Männer, nachdem sie trainiert haben, gehen täglich an die Fahrzeuge, warten und reparieren sie, wie das gesamte Gerät, von dem das Leben und der Brotwerwerb abhängen. Ein weiterer Grund für das Mißtrauen der DDR-Offiziellen gegenüber solchen Truppen: deren Einblicke. In 50 Metern Höhe sieht man allerhand. Die Geheimniskrämer aber wollten solche Sicht der Dinge nicht erlauben. Noch nicht einmal Kartographen wurden Luftaufnahmen gestattet, geschweige denn dem fahrenden Volk solche luftigen Ein- und Ausblicke. Dennoch, trotz aller Mühsal der Weisheits auf dem Weg nach oben — als sie die DDR-Bürokratie endlich überwunden, sprich: überzeugt hatten, waren sie wer im Lande. Und es kam auch niemandem mehr in den Sinn, wie noch in den fünfziger und sechziger Jahren, plötzlich Haussuchungen vorzunehmen, um die Seiltänzer zu überführen oder die Lizenz einfach einzuziehen.

Die Weltkarriere stand vor der Tür...

Sie hatten es endlich geschafft. Die Terminkalender auf Jahre gefüllt. Die Kinder sämtlich mit glänzenden Zeugnissen von der Oberschule abgegangen. Jede der Töchter, der Söhne, hat einen Beruf, Autoschlosser, Elektriker, Elektroniker, Schlosser, Schneider, Kosmetikerin, Friseuse. Es versteht sich, daß man das eigene Unternehmen im Auge hatte, bei der Auswahl des Zweitberufes. Der erste Beruf ist und bleibt natürlich Artistin oder Artist. Sie waren auch in der Karriere ganz oben angelangt, jene Leute, hoch auf dem Seil. Mit Mann und Maus durften sie sogar mehrere Male nach Westeuropa reisen. Auf eigene Kosten, versteht sich, und die erarbeitete harte Währung wurde zum größten Teil abgeführt, aber immerhin. Damals begeistert umjubelte Exoten und Angebote über Angebote. Die Weltkarriere war in Sicht.

Doch auch schon damals dunkler Mächte Hand. Bei einem Gastspiel in West-Berlin wurde der Mast über Nacht von Unbekannten gekappt und umgestürzt. Gewaltiger Schaden und Abbruch der Tournee. Die Forderung der DDR-Offiziellen zu Hause, das Unglück öffentlich als Machenschaften entspannungsfeindlicher Kräfte zu brandmarken. Die Weisheits lehnten ab. „Genauso gut kann die Konkurrenz an unseren Stahlseilen gefingert haben.“ Dennoch, sie sind nicht bereit, über die untergegangene DDR den Stab zu brechen. Sie hatten ihre Chance und haben sie wie wenige genutzt. Die Sicherheit, die Entwicklung der Kinder, die Wertschätzung allerorten. Erst einmal vorbei. Ob solche Erfolge jemals wiederkommen?

Rudi Weisheit ist zuversichtlich. „Es wird soviel geredet, daß sich Leistung auszahlt. Wir bringen Leistungen, von denen die Konkurrenz nur träumen kann. Uns fehlen nur ein paar Sponsoren.“ Der Blick ist westwärts gerichtet. Eine Amerikatournee ist in Vorbereitung. In den gesamten USA gibt es keine vergleichbare Freilufthochseilartistiktruppe. Auf der Stelle würden sie losziehen, die Weisheits, aber eben die Überfahrt, für so viele Menschen und schweres Gerät. Etwa 100.000 D- Mark wären aufzubringen. Doch die Truppe hat sie nicht. „Wer da investieren würde, bekäme sein Geld mehrfach zurück“, meint Heino, der Trainingsmeister. „Der ganze amerikanische Kontinent, unsere Flexibilität und“, nun ein tiefer, sehnsüchtiger Atemzug, „die Niagarafälle.“ Doch vor den Niagarafällen liegt halt ein noch größeres Gewässer, der Ozean.

Auch nach dem Osten geht der Sehnsuchtsblick der Hochseilartisten. Welche Triumphe hat man einstig da gefeiert. Wenn die dortigen Währungen stabiler wären, auf der Stelle würden sie wieder aufbrechen in Richtung Weichsel und Wolga. In Polen und der damaligen CSSR, in den siebziger und achtziger Jahren, große bejubelte Tourneen. Unübertroffen die Gastspiele in der UdSSR. Obwohl die russischen Lande selbst reich mit Weltklasseartisten gesegnet, wurden die Weisheits gefeiert wie nie zuvor in ihrer Laufbahn. Zu Volksfesten in die UdSSR eingeladen, waren sie am Ende selbst ein Fest für riesige Völkerscharen: Hunderttausende in den großen Städten, bis zu 600 Kilometern der Anreiseweg zahlloser Schaulustiger.

Wie jedes Jahr vor Anbruch der Saison, fahre ich nach Gotha, um meine alten Freunde, mit denen ich die Kindheit verlebte, für ein Jahr zu verabschieden. „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“ Mit diesem Bibelspruch begrüße ich meinen Jugendfreund Rudi. Die Erwiderung ist typisch. Schneller Blick zu Sohn André nach oben, und schon beweist der mir seine Furchtlosigkeit. Aus neun Metern Höhe, vom halb ausgefahrenen Mast, springt der Lümmel auf mein Auto. Mein erster Blick gilt natürlich dem Wagen. Der zweite erst dem vertrackten Springer, der sich amüsiert aus dem Staube macht. Das Tanzen auf dem Seil, eine uralte Tradition, die von großartigen Frauen und Männern weitergetragen wird. Die Frage nach dem Bewahrenswerten aus der untergegangenen DDR, noch immer wird sie gestellt. Wenig fällt uns bisher dazu ein. Diese großen Artisten mit ihrem einmaligen Können verdienen es, davor bewahrt zu werden, wie so vieles und nur scheinbar nicht mehr in die Zeit Passendes, einfach zu verschwinden. Sie haben einen Anspruch auf Fortsetzung ihrer Tradition und auf Hilfe, wie wir auch weiterhin auf ihre Kunst.