Mittel im Einsatz

Jungen-, Männer-, Prostituiertenkult. Details über den männlichen Blick am Beispiel von Toulouse-Lautrec (Retrospektive, Paris), Larry Clark (Ausstellungen, Paris) und Danny Lyon (Retrospektive, Essen)  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es ist das Privileg von Künstlern, daß sie ihre Irrtümer dem Hohn des Publikums preisgeben dürfen. Jede verpaßte Chance, die Verkennung der eigenen Person, die Korrumption durch die Gunst der Stunde werden im nachhinein akribisch erfaßt und ausgewertet. Die Homogenität des Werks wird in seine Einzelteile zerlegt, und aus den Anekdoten wird jene Geschichte des Alltags geschrieben, die den Künstler zum Beispiel, zum Fall macht.

Toulouse-Lautrec

Henri de Toulouse-Lautrec war so ein Fall. Die widerwärtigste Geschichte über den verkrüppelten Aristokraten hat sein Freund Thadee Natanson ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod, 1951, kolportiert. Lautrec kam schwer betrunken als Gast in eine Gesellschaft. Er suchte sich das junge Zimmermädchen als Opfer aus und brachte sie mit Unverschämtheiten in größte Verlegenheit, bis er ihr schließlich gewaltsam die Kleider vom Leib riß. Es war eine Zeit, in der nicht der Täter bestraft wurde, sondern die Opfer, fin de siècle.

Sonntag in Paris. Großer Andrang im Grand Palais, aber gegen Katastrophen ist vorgesorgt. Die Karten für die Retrospektive Toulouse- Lautrec hat man sich bei der Fnac geholt, im vor dem Grand Palais errichteten zipfelmützigen Kassen- und Cafézelt oder über den elektronischen Telefonservice „Minitel“. Nun schlendern die Familien durch die vornehm illuminierten Hallen, Bürgersleute und ihre adretten Kinder mit den hellwachen Augen der „Begabten“. Auf beiden Etagen des Flügels hat man komplett Innenwände eingezogen, die mit einem groben grauen Packpapier tapeziert sind, so daß eine Atmosphäre von Flüchtigkeit und Arbeit aufkommt. So müssen sich die Gemälde, Ölskizzen, Zeichnungen, Drucke und Plakate Toulouse-Lautrecs nicht an der sakralen Aura des (vertrackt) feudalen oder (schmucklos) bürgerlichen Museums messen. Lautrecs Welt schließt sich zum Kosmos. Statt daß die Vielfalt des Gegenstands in Erscheinung tritt, überlagert das werkhafte Grau der Ausstattung die Bilder und Skizzen, die sich somit auf das Emblematische reduzieren (ein ähnlicher Effekt stellt sich manchmal ein, wenn man Künstler im Atelier besucht).

Es ist ein schöner Sonntag zwischen den finsteren Gestalten der Halbwelt und verderblichen käuflichen Schönheiten. Die gezügelte Arabeske seines verhaltenen Jugendstils läßt das Paket verschnürt; die Scham des Publikums bleibt unangerührt.

Will man Toulouse-Lautrec situieren, stößt man auf ein Vakuum zwischen dem 19. und dem 20.Jahrhundert. Selbstverständlich gehört Lautrec zu den Neuerern, den Unabhängigen, hat sich losgemacht von den engstirnigen Dogmen akademischer Malerei. Aber er gehört auch nicht zu denen, wie Degas, Cezanne und van Gogh, die die Grammatik der malerischen Bildsprache neugeschrieben haben. Lautrecs Rede ist eher ein seltsames Idiom, und die ungeschriebenen Gesetze des 19.Jahrhunderts, die Sehnsucht nach dem Exotischen und Verborgenen, werden von ihm — wenn auch schrill — reproduziert. Frauen haben ihren Auftritt als Musen; daß Männer, finster und selbstbewußt, in seinen Bildern nicht als Sympathieträger erscheinen, ist ein effektiv eingesetztes Mittel der Karikatur. Lautrec lebt von der Zweiteilung der Welt und Montmartres.

Daß Lautrec auch Maler ist, rettet ihn jetzt für das große Publikum; und so gehört er vielleicht zu den am krassesten überschätzten Künstlern dieses Jahrhunderts. Letztlich war es seine große Leistung, seine Genrethemen in den Plakatentwürfen mit Typografie zu verschmelzen. Dennoch, auch hier sind die Spuren in der Nachwelt nur mit Mühe zu finden; es gibt weit wichtigere Künstler in der Geschichte des Plakats (Cassandre, Lucian Bernhard). Im Detail sind die meisten Arbeiten, die nicht sehr bekannt sind, enttäuschend. Angezogen von der Lockerheit seiner Linie oder dem Flimmern eines Farbfelds tritt man näher und kann zusehen, wie die Aura schwindet. Seine Klischees sind nicht erregend, wie sie es später bei Warhol sind. Lautrecs Einsatz in der kommerziellen Maschine hat sich mit dem Ausverkauf dieser Maschine (schon Ende der 90er war Montmartre ein billiger Touristenbetrieb ohne betörende Attraktionen) vollkommen überholt. Aber in Frankreich hat man keine Hemmungen, auf Holzwegen Tänze zu veranstalten. Selbst einem verkrampften Kitsch-Expressionisten namens Georges Rouault widmet das Centre Pompidou eine Retrospektive.

Danny Lyon

Die Malerei ist, gegen alle Wahrscheinlichkeit, eine heroische Angelegenheit geblieben; vielleicht deshalb, weil sie eine Technik ohne die Möglichkeit praktischer Anwendung ist. Das gilt nicht für Grafik und für Fotografie, und so verschwommen wie die Begriffe sind nicht selten die Lebensbilder derer, die sich auf diese Techniken eingelassen haben. Danny Lyon, dem die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang eine Retrospektive widmet, ist das Beispiel eines Fotografen, der versucht hat, dem Dilemma zu entkommen.

Fast wäre er Journalist geworden. Mit Anfang Zwanzig, noch als Student der Geschichte an der University of Chicago, begann er die antirassistischen Aktionen junger Schwarzer zu fotografieren und wurde der Fotograf des Organisationskomitees Gewaltfreier Studenten (SNCC). So entschied er sich für die Fotografie, und wie Robert Frank und William Klein hat Lyon später auch Filme gemacht, ab 1969. Der Draht zur Revolte hat sein Verhältnis zur Fotografie geprägt, die bei Lyon nicht Mittel zum Zweck, aber ein Mittel im Einsatz ist. Auf den frühen Fotografien der Unruhen ist der Fotograf als Person fast abwesend, die Bilder leben ganz aus der Hitze der Situation. Man bekommt nochmal ein klares Bild von dem Vorhaben, mit zivilen Mitteln die repressive Macht zum Bekenntnis zu zwingen; den Schwarzen, die sich klatschend und rufend Mut machen, die mit gespannten Gesichtern und offenen Mündern in einem Polizeibus weggefahren werden, sieht man an, daß das, was sie tun, ihr Leben ändern wird.

Aber ihre Zukunft ist nicht die des Fotografen. Und als das Band der Solidarität brüchig wird, geht der Fotograf eigene Wege. Jedenfalls könnte man zunächst glauben, es wären die eigenen. Er macht Porträts auf Straßen und in Bars, er schließt sich einer Motorradgang an, er fotografiert in texanischen Gefängnissen, er dokumentiert den Abriß im unteren Manhattan. So gehen die 60er Jahre vorbei, es gibt eine zeitweilige lockere, aber letztlich unergiebige Zusammenarbeit mit der großen Fotografenagentur Magnum. Fotobücher als Kunstform sind seit Robert Franks The Americans in Mode gekommen, und Lyon bringt alle großen Projekte als Buch unter, The Bikeriders (New York/London 1968), The Destruction of Lower Manhattan (New York 1969) und Conversation with the Dead: Photographs of Prison Life, with the Letters and Drawings of Billy McCune £122054 (New York 1971).

In den siebziger und achtziger Jahren folgen die üblichen Ausweichmanöver, Reisen nach Bolivien und Haiti, ein bißchen Exotik, ein bißchen latente Gewalt. Aber erst als Lyon 1987/88 zur nächsten Männergang zurückkehrt — the pits, Leute, die Autocrashs als Hobby betreiben — wird unübersehbar, wie der schwindende Mut den Zugriff auf die Form zerstört hat. Es steht jene Langeweile in den Gesichtern, die man vom Desinteresse des Fotografen nicht mehr unterscheiden kann. Danach kommen Bilder von der Familie, im Schnitt eher lapidare Augenblicksaufnahmen und Porträts, teils collagiert, betextet oder mehrfach belichtet: der ganz große Ausverkauf. Danny Lyon wäre gut beraten gewesen, diese Bilder nicht zu zeigen. Statt dessen macht er ein auf unglücklichste Weise frivoles und melancholisches Kinderbuch daraus (in Essen wird es neben dem Katalog auch verkauft): I Like to Eat Right on the Dirt: A Child's Journey Back in Space and Time (Clintondale, NY 1989). Natürlich völlig selbsterfahren, demokratisch und authentisch im Selbstverlag.

Fragt man sich, ob der Verfall im Zugriff des Fotografen auf jenen Bruchteil von Wirklichkeit, der Fotografie ausmacht, zwingend war, entdeckt man sehr früh die Spuren mangelnder Kontrolle im fotografischen Werk Danny Lyons. Mehr als zwei Augenpaare im Bild kann er nicht koordinieren, die anderen laufen ihm davon. Wenn es hektisch wird, ist auch der Fotograf hektisch, wenn es ruhig zugeht wie in den verlassen Gebäuden auf der Lower East Side, wird Lyon betulich, seine Fotografien werden beschaulich. Sein Manko ist nicht das der „alternativen“ Fotografen, in deren Bildern die guten Menschen gut sind und die bösen böse. Aber letztlich begreift man auch nicht, was Lyon mit dem Männerkult einer Motorradgruppe wirklich zu tun hat. Zum Beispiel.

Larry Clark

Daß das Männerbildnis in der Fotografie so wichtig ist (man könnte von einer Renaissance des Blicks sprechen), hat wahrscheinlich mit dem Bedürfnis nach Rückversicherung zu tun, weniger der Individuen, sondern eher des Mediums, insofern das Medium ein kollektives Subjekt ist. Danny Lyon hat — mit seinen Gefangenen, Clans und auch mit einigen Bildern seiner Söhne — davon etwas gespürt. Aber wie heißt es bei Jonathan Green (sein Buch American Photography, New York 1984, hat Ute Eskildsen, die für die Retrospektive verantwortlich zeichnet, in einer Vitrine ausgelegt. Auf der aufgeschlagenen Doppelseite ist zu lesen):

„Sein persönlicher Journalismus ließ ihn als Antwort der sechziger Jahre auf Robert Frank erscheinen.

Leider hat es nicht geklappt. Was Frank in einem einzigen Buch gelungen ist, ist Lyon in vieren nicht gelungen. Zurückblickend, hat seine Vision etwas Unangenehmes, Konservatives: ein sanftes Rebellentum auf Grundlage radikaler Themen, die weder als erfolgreicher Fotojournalismus noch als Kunst Gestalt angenommen haben.“ Braucht es eine Retrospektive, um das zu beweisen? Ich denke schon. Aber wir sollten uns nicht einrichten in der kontraproduktiven Melancholie alternder Rebellen.

Wie jede moderne Kunstform, lebt auch Fotografie nicht von der Wichtigkeit der Themen. Es ist eher ein Kurzschluß zwischen den Lebensumständen der Künstler und ihrer Form, der als Funke zum Publikum überspringt. Deshalb ist es egal, ob jemand die Präsidenten aller Länder porträtiert, im Krieg fotografiert, im eigenen Garten oder in fremden Betten; allein, je privater das Feld abgesteckt ist, desto metaphorischer muß die Fotografie sein.

Larry Clark ist diese Metaphorisierung, über etwas mehr als ein Jahrzehnt hinweg, gelungen. Er hat in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren als Junkie unter Junkies in Tulsa, Oklahoma, gewohnt und den seltsamen Alltag der Szene fotografiert: ein Lotterleben in billigen Einfamilienhäusern mit wuchernden Gärten; Spritze setzen, high sein, Sex haben, vor sich hindämmern, das Herumfuchteln mit den Waffen. Wie Danny Lyon hat auch Larry Clark Bücher gemacht, (meines Wissens) zwei: Tulsa (1971) und Teenage Lust (1983). Aber was Clark zu bieten hat, zuletzt in der Espace Photographie (in den Les Halles in Paris), geht weit über Lyon hinaus. Ein Bild zum Beispiel zeigt einen jungen Mann auf dem Beifahrersitz eines Autos bei Nacht, die Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge fangen sich in der Windschutzscheibe, auf der im Moment der Aufnahme der Regen zum Stehen kommt. Der Fotograf sitzt offenbar auf dem Rücksitz, und der junge Mann erscheint fast im Profil. In seinem Auge bricht sich das Licht, das von draußen hereinfällt. Es könnte der Moment einer Vision sein, der Moment vor einer Katastrophe oder nach einer Entscheidung. Ein Moment auf einer Reise (der Fahrer fehlt, das Auto scheint zu stehen), der nichts mehr ist als ein Moment. Aber es ist mehr als nur irgendeine Reise.

Dies ist die Metaphorisierung, die es der unendlichen Menge Dritter möglich macht, die Gegenwart Larry Clarks unter Freunden als Gegenwart von Belang zu begreifen. Weil Clark noch im geringsten Reflex die Wendung (vom Bekannten ins Unbekannte und andersherum) spürt, kann er auch bei vollem Tageslicht fotografieren, was fast unfotografierbar geblieben ist: Sex und Geburt. Es gab natürlich in den Siebzigern längst Fotos von Sex und Geburt, aber ich kenne neben der Arbeit Clarks nur wenige Fotografien aus dem circle of birth (Paul Simon), die sich nicht wie eine Waffe gegen den Betrachter wenden. Man ahnt, daß Clark für die Überwindung der Hemmungen, die sich als phantastische Intimität in die Bilder geschrieben hat, viel bezahlt; und wer weiß, wen er hat bezahlen lassen. Eine Fotografie, die in keinem der beiden Bücher zu sehen ist, zeigt die Beerdigung eines Babys. In Teenage Lust dokumentiert Clark auch die Zeitungsartikel, die von den Prozessen gegen ihn berichten — keine Kleinigkeiten.

Larry Clark, heißt es in einer kurzen Notiz der „Espace“, sei von Drogen frei und seit kurzem verheiratet. Was er an jüngeren Arbeiten präsentiert, kann sich an den früheren nicht messen, hierin ähnelt er Danny Lyon. Zum einen baut Larry Clark Collagekästen, in denen er diverse gefundene Bilder von Männern und Frauen zusammenbringt, die Iron Lady auf dem elektrischen Stuhl, Elvis Presley, den niedlichen dunklen Jungen aus „Flipper“, eine Farbseite mit dem verführerisch passiven River Phoenix — was Clark wirklich interessiert, sind die Symbole juveniler Versteinerung, die er mit lässig aufgenommenen, eigenen Fotos Jugendlicher konterkariert. Da darf der Blitz schon mal, in leichter Untersicht auf kurze Boxershorts, das Blickfeld bis zum Scrotum ausleuchten.

Clarks Polemik steht im scharfen Kontrast zu Danny Lyons jüngster Produktion: in dessen gesamter im Folkwang-Museum-gezeigter Familienfotografie, inklusive des Kinder- Buchs I Like to Eat Right on the Dirt..., kein einziges (ganz) nacktes Kind vorkommt; oh, ängstliches Amerika. Dennoch ist Clarks Position zu konstruiert, um glaubhaft zu sein, und sein Interesse an jugendlicher Sexualität wirkt verkommen dort, wo Jugendliche schamlos stellen, was der Fotograf ihnen aufgibt (in den Les Halles gibt es eine ganze Installationswand mit dieserart halbnackten Jungen; daß das Management der Institution dann noch Astrid Gilberto vom Endlosband laufen läßt, macht die Sache nicht weniger peinlich). Es scheint, daß auch der Zugang zum „Verbotenen“ seine Zeit und Stunde hat.

Lyon und Clark — wie vormals Frank — erleiden nun das Schicksal des Künstlers, der immer für das Falsche gelobt wird, für „ganz früher“. Man muß auch an Toulouse-Lautrec denken, wie er am Ende seines kurzen Lebens zu einer altmeisterlichen, betulichen Malerei zurückkehrt. In einem gewöhnlich Leben fallen Rückfälle dieser Art nicht so auf. Es ist das Privileg des Künstlers, daß das Vakuum, in das er fällt, als seine eigene Leere erscheint.

Toulouse-Lautrec, Galeries nationales du Grand Palais, Paris. Bis zum 1.Juni 1992. Katalog, englisch oder französisch, 350Franc.

Danny Lyon: Photo Film 1959-1990. Fotografische Sammlung im Museum Folkwang, Essen. Bis zum 12.April. Katalog (Edition Braus) in der Ausstellung 39Mark.