DEBATTE
: Feindbild Türkei

■ Gedanken zum Hintergrund der gegenwärtigen Türkei-Debatte

„Türke, der; -n, -n (H.u.): a) (ugs.): etw., was dazu dient, etwas nicht Vorhandenes, einen nicht existierenden Sachverhalt vorzuspiegeln: Der Verdacht, daß hier ein grandioser „Türke“ geplatzt sei.“ — Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 6

Der Türke hat neben dem Juden jahrhundertelang den Feind Europas repräsentiert. Die Reconquista in Spanien vor 500 Jahren, die Vertreibung und Verfolgung der Juden und die Türkenkriege bilden den Sockel christlich-abendländischer Identität. Daran haben aus politischen und strategischen Gründen geschlossene Pakte mit der Türkei nichts geändert. Deutlich wird dies vor allem in den Beziehungen der Europäischen Gemeinschaft mit der Türkei und in der Berichterstattung europäischer Medien. Über Jahrhunderte gefestigte psychologische Muster, ein Gemisch aus Angst und Vorurteil, wie sie sich in der deutschen Literatur in unzähligen Türkenliedern ausbreitet, wirkt noch heute nach, wenn das „asiatische“ und „muslimische“ Land aus Europa ausgegrenzt wird.

Der Türke ist der Andere, im Bund mit allem, wovon man sich selbst bewußt und unbewußt distanziert, vor allem mit Gewalt und Sinnlichkeit.

Die Medien tun sich erheblich schwerer damit, über den Demokratisierungsprozeß in der Türkei zu berichten, als über Folter. Folter, die es in den achtziger Jahren in erschreckendem Ausmaß gegeben hat und die heute noch existiert, ist zu einem Markenzeichen der Türkei geworden. Es war aber interessant zu beobachten, wie schwerfällig sich die Presse verhalten hat, als die Koalitionsregierung aus Konservativen und Sozialdemokraten, die seit Herbst 1991 an der Macht ist, diese Schande offensiv angegangen ist, ein berüchtigtes Gefängnis geschlossen hat und in ein Museum des Grauens verwandelte. Anwälte sollen zu allen Verhören zugelassen werden, man spricht von gläsernen Wachen.

In der Türkei ist eine in Europa kaum beachtete offene Diskussion über die achtziger Jahre im Gange, deren Ziel es ist, das Land zu rechtsstaatlichen Prinzipien zurückzuführen. Die verheerenden Auswirkungen des Militärputsches von 1980, mit all ihren Folgen für Menschenrechte und politische Kultur werden offen angesprochen. Auch in der Kurdenfrage gab es Bewegung. Insofern stellen die jüngsten Ereignisse während der Newroz-Feiern in Südostanatolien einen Rückschlag dar. Als der Ministerpräsident Demirel nach seinem Regierungsantritt die Kurden als eine in der Türkei lebende Minderheit bezeichnet hat, war diese Nachricht der hiesigen Presse nur eine winzige Notiz wert. Das brutale Vorgehen des Militärs gegen Aufständische dagegen schafft wieder Kontinuität im Türkeibild Europas.

Selbst liberale oder sozialdemokratische europäische Politiker, von denen man eine überzeugte säkulare politische Haltung erwarten würde, definieren Europa immer mehr als christlichen Kulturclub, in dem die Muslime, also auch die Türken, nichts zu suchen haben. Helmut Schmidt gehört ebenso zu ihnen, wie Jacques Delors oder Giscard d'Estaing. Für diese Politiker ist die laizistische Türkei, in der eine strengere Trennung zwischen Staat und Kirche existiert als zum Beispiel in der Bundesrepublik, immer noch die Vorhut der islamischen Welt.

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen „Staatengemeinschaft“ ist der Islam in den Augen des Westens die eigentliche Bedrohung. Für den Medienmann Scholl-Latour, der mit jeder von ihm zusammengestellten Fernsehsendung für Millionen Zuschauer die Mauer zu den Andersartigen, sprich: zur islamischen Welt, noch etwas höher zieht, ist es eine Selbstverständlichkeit, von den Osmanen in Anatolien zu sprechen, auch wenn er damit die Bevölkerung der heutigen Republik Türkei meint. Die Geschichte ist jene schwarze Tafel, auf der man die Gegenwart nicht nur schreibt, sondern auch abliest. Der Türke ist fremd und gefährlich zugleich. Er ist identisch mit dem Osmanen, der fünf Jahrhunderte lang sein Krummschwert über weite Teile Europas geschwungen hat. Es ist bemerkenswert, wie wenig wissenschaftliche Erkenntnisse über das sehr komplexe Gebilde des osmanischen Reichs ins europäische Bewußtsein eingedrungen sind. In die Wissenslücken in den Köpfen steigen Ängste und Phantasien aus dem Unbewußten auf und führen zu absurden Gedankengängen wie die folgenden von Paul Schuster, veröffentlicht in der 'Süddeutschen Zeitung‘:

„...Dem Sultan gehörte das ganze Imperium. Gut und Leben, vom Großwesir bis zum klapprigsten Wüstenkamel. Alle Fische und Vögel; die Dichter und die Maler, alle Männer und Frauen, alle Hütten und Straßen und Sandkörner. Der Sultan lieh und entzog. Hinter den Säulen zu beiden Seiten des Thronsaals standen die Verstümmelten (denen man die Zunge herausgeschnitten hatte, damit sie nie weitererzählten, was sie sahen), standen da mit den Seidenschlingen, den Jataganen, ein Wink des Sultans genügte — und sie kamen und faßten den Bittsteller, den Zitierten, den Empfangenen, erwürgten ihn oder köpften ihn. Juristische Probleme gab es nicht.

Kerntruppe waren die Janitschatren, leibliche Söhne des Sultans und seiner höchsten Würdenträger, der Großwesire und Wesire; die Haremsfrauen Gebärmaschinen. Ein guter Sultan mußte auch ein guter Bock sein — täglich wenigstens eine seiner Frauen bespringen. Die so entstandenen Söhne sind die historischen Vorläufer der Securitate — Spezialeinheiten, auf die Ceausescu sich gestützt hat.“

Ceausescu gleich osmanischer Sultan — als hätte es in der deutschen und europäischen Geschichte nicht genügend blutrünstige Herrscher als Vorbilder gegeben, den letzten vor nicht einmal einem halben Jahrhundert. (Aber vielleicht waren ja auch die KZ-Wächter und Schlächter die Söhne des Sultans?) Osmanische Geschichte im Ton von Tausendundeiner Nacht im Feuilleton einer der angesehensten Zeitungen der Bundesrepublik. Wenn es möglich ist, derart krasse Erfindungen als historische Wahrheiten zu verkünden — die osmanische Geschichte ist voller Kämpfe, in denen es um Eigentumsprobleme und eine Bodenordnung geht —, dann muß auch festgestellt werden, daß es um den Wissensstand über die osmanische Geschichte und türkische Kultur sehr schlecht bestellt ist. Vielmehr werden hier Feindbilder weitergereicht, die auf die Zeit der Türkenkriege und Kreuzzüge zurückgehen. Dies läßt natürliche Differenzierungen nicht zu. Der türkische Weltenzerstörer Tamerlan gehört ebenso zum Sprachschatz deutscher Medien, wie auch rassistische Distanzierungen zur Türkei und zu den Türken. Die Sprache ist ein Spiegel des Bewußtseins. Und in der deutschen Sprache wird zum Begriff „Türke“ allerlei Unflätiges assoziiert.

Die Auflösung der Sowjetunion und die Veränderungen auf dem Balkan haben die Bedeutung der Türkei in der Region erheblich verstärkt. Es ist in dieser sensiblen Phase des Umbruchs von erheblicher Bedeutung, daß Europa seine Ausgrenzungspolitik gegenüber der Türkei zugunsten einer aufrichtigen Partnerschaft aufgibt und die seit 150 Jahren — solange schon orientiert sich die Türkei am europäischen Kulturkreis — ausgestreckte Hand ergreift. Nur so können Demokratie und Stabilität in der Türkei gestärkt werden und als positives Modell in die Nachbarschaft hineinwirken. Der Aufbau und die Pflege historischer Feindbilder aber vertieft nur Gräben und verhindert schon an der Wurzel jede Art von friedlichem multikulturellem Zusammenleben. Zafer Șenocak

Der Autor ist freier Publizist in Berlin. — Siehe auch Ömer Erzerens Beitrag: taz vom 4.4.