Eigentlich war es eine schöne Zeit

Ein Treffen ehemaliger Künstler des Jüdischen Kulturbundes in Berlin  ■ Von Elke Schubert

Über fünfzig Jahre nach seiner Schließung waren in der vergangenen Woche vierzig ehemalige Mitarbeiter und Künstler des Jüdischen Kulturbundes in Berlin zu Gast. Aus Israel, den USA, Lateinamerika und Schweden angereist, war es für die meisten von ihnen nicht nur die erste Wiederbegegnung mit der Stadt, sondern auch mit ihren einstigen Kollegen und Freunden. Daß dieses Ereignis nicht den Charakter eines Klassentreffens angenommen hat, ist einerseits der Institution des Jüdischen Kulturbunds (dem in Berlin die große Austellung „Geschlossene Vorstellung“ in der Akademie der Künste gewidmet ist) und anderereseits den Künstlern des Kulturbundes und ihren ungewöhnlichen Biographien zu verdanken.

Über die — unterschiedlich eingeschätzte — Rolle des Kulturbundes zwischen 1933 und 1941 sollte bei einem Podiumsgespräch am vergangenen Donnerstag im ausverkauften Saal der Akademie der Künste diskutiert werden. Die erste und wahrscheinlich — bedenkt man das hohe Alter der Gesprächsteilnehmer — auch letzte Veranstaltung dieser Art. Auf dem Podium stritten unter der Gesprächsleitung von Henryk M. Broder drei Musiker, eine Schauspielerin, eine Tänzerin und der ehemalige Programmberater des Kulturbundes, Herbert Freeden. Broder skizzierte zunächst die zwei konträren Positionen: die unter anderem von Herbert Freeden (er ist Autor eines Buches über den Kulturbund) vertretene These, der Kulturbund sei von den Nazis instrumentalisiert worden; dagegen steht die Meinung vieler Kulturbundmitglieder, die die Berliner Schauspielerin Camilla Spira einmal exemplarisch so formuliert hat: „Es war eine schöne und auch glückliche Zeit.“

Nach Freeden war der Kulturbund ein Ghetto, in das sich jüdische Künstler und Zuschauer 1933 freiwillig begeben haben, als Juden zwar noch öffentliche Theatervorstellungen und Konzerte besuchen durften, aber nahezu alle jüdischen Künstler aus ihren Engagements entlassen wurden. Als „Pfeffer für die Diskussion“ streute Freeden seine Frage ein, ob die Arbeit im Kulturbund nicht die Emigration und damit Rettung vieler verhindert habe. Für jeden Künstler bedeuteten die Bretter des Theaters die Welt, hielt Ruth Anselm-Herzog dagegen, eine ehemalige Tänzerin und Schauspielerin, die heute in New York lebt und deren Biographie alles andere als unpolitisch ist. Sie beschrieb eine Situation, in der viele ein Engagement beim Kulturbund als Übergangslösung akzeptierten, weil selbst die klügsten Menschen glaubten, daß sich die Nazis nicht lange halten würden. Ganz en passant erfuhr das Publikum, daß die Künstlerin während des Nationalsozialismus im Untergrund gearbeitet und bedrohte Juden über die grüne Grenze aus Deutschland geschmuggelt hatte. Ihr entscheidendes Argument gegen die Auswanderung war das Problem der Sprache, das vielen Schauspielern das Engagement im Ausland von vornherein verschloß.

Viele Künstler versuchten trotz aller Schwierigkeiten, im Ausland engagiert zu werden, wie die Tänzerin Hannah Kroner-Segal, die am Donnerstag eindrucksvoll schilderte, wie froh sie nach zahlreichen Ablehnungen über ein Angebot des Kulturbund-Theaters gewesen wäre. Sie hätte jedes Engagement angenommen, da ihr nach Beendigung der Ausbildung die Praxis fehlte. In den ersten Monaten war sie sogar über einen 50-Sekunden-Auftritt überglücklich, „obwohl die Busfahrkarte teurer als meine Gage war“.

Überhaupt scheinen sich die damals jugendlichen Kulturbundmitglieder wie die Musiker Henry Meyer und Horst Prentko weniger Gedanken gemacht zu haben als der „alte Hase“ Herbert Freeden, der bei seinem Eintritt schon als Journalist Berufserfahrung gesammelt hatte. Der Klarinettist Horst Prentki ist als Sechzehnjähriger vom Kulturbund engagiert worden, zu einem Zeitpunkt, als seine erfahrenen und älteren Vorgänger schon ins Ausland emigriert waren. Aufgrund dieser traurigen Tatsache bot sich die für einen sechzehnjährigen Berufsanfänger geradezu einmalige Chance. „Hier hast du fünfzig Pfennig, kauf dir ein paar Bonbons“, soll der Kapellmeister nach Prentkos erstem Auftritt gesagt haben. „Musik ist eben meine große Liebe“, vielleicht ist diese Ausschließlichkeit eine Erklärung für die von Freeden beklagte mangelnde Reflexion vieler Kulturbundmitglieder.

Über seine These, das jüdische Theater sei ein Arrangement mit der schlechten Realität eingegangen, waren nicht nur die Podiumsmitglieder empört, sondern auch die Kulturbundkünstler im Publikum. Da hieß es, daß durch die erzwungene Isolierung der jüdischen Künstler auch Anfänger die Chance bekamen, mit den großen Stars zusammenzuspielen. Nachdem 1938 Juden der Besuch städtischer Theater verboten war, änderte sich die Zusammensetzung des Kulturbundpublikums, es kamen jetzt Besucher aus allen Schichten zu den Vorstellungen. Das Warten auf die Ausreisegenehmigung konnte oft Monate und Jahre dauern, da waren Theater, Konzerte und Kino des Kulturbundes die einzige Möglichkeit der Zerstreuung.

Nicht wenige Karrieren haben im Kulturbund ihren Anfang genommen. Und für Ruth Anselm-Herzog bedeutete es die Rettung, daß sie als Schauspielerin Erfahrungen auf den Brettern des Jüdischen Theaters hatte sammeln können. Als sie von der Gestapo verhaftet wurde, spielte sie die Rolle ihres Lebens. „Ich spielte die Idiotin“, und zwar so überzeugend, daß sie am nächsten Tag freigelassen wurde. Den Leiter des Kulturbundes — Dr. Kurt Singer — beschrieb sie auf der Veranstaltung als unpolitischen Menschen, der sich völlig seiner Arbeit verschrieben hatte und ein entschiedener Gegner der Emigration war. Als er von Anselm-Herzogs Auswanderungsplänen erfuhr, beschied er ihr, daß für Künstler mit einer derartigen Arbeitsauffassung im Kulturbund kein Platz sei. Und bestätigte damit Freedens These von der Verhinderung der Emigration durch den Kulturbund.

Herbert Freeden hob dennoch zum Ende der Diskussion noch einmal die positiven Seiten des Kulturbundes hervor: „Er brachte in düsteren Zeiten Kultur nach Deutschland, war eine Form des geistigen Widerstands und die einzige Abwechslung für Menschen, die vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren und verfolgt wurden.“