Ein Kleben und ein Tippeln

Birgit Scherzer, einst Nachwuchshoffnung des DDR-Balletts, arbeitet nun als Choreographin in Saarbrücken, wo sie eine neue Produktion vorgestellt hat  ■ Von Kai Voigtländer

Ein Tanz kann sein wie die Liebe: ein Fliegen und Fallen, ein Jauchzen und Zerschmettert- Werden, ein Kleben auf der Erde und ein Tippeln auf Zehenspitzen, zitternder Atem und pumpendes Herz — eine Bewegung zwischen Himmel und Erde. Ein Tanz kann die Fallhöhe ausloten zwischen Schweben und Kleben, zwischen Anziehen und Abstoßen: den Raum zwischen zwei Körpern. Wie die Liebe das kann — wenn es eine ist.

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Aber es geht ja nicht allein um die Liebe. Es geht um Frauen Männer Paare — um den Menschen als Geschlechtswesen, und um seine paarweise Zuordnung. Frauen Männer Paare — mit diesem Dreiklang stellt Birgit Scherzer ihre zweite choreographische Arbeit in Saarbrücken vor. Eigentlich keine Uraufführung, denn die junge Ballett-Chefin des Saarländischen Staatstheaters hat alle Sequenzen dieser Trilogie schon an der Komischen Oper in Ost-Berlin auf die Bühne gebracht — teils vor, teils nach der Wende. Die drei Tanztheaterstücke ganz unterschiedlicher Herkunft und Machart hat sie jetzt zu einer Collage vereint: Frauen Männer Paare ist trotzdem eine neue Arbeit, denn Birgit Scherzer hat Figuren und Abläufe mit der Ballett- Compagnie des Staatstheaters, also mit anderen Tänzerinnen und Tänzern, neu einstudiert. Und die einzelnen Teile, wiewohl in sich geschlossene Choreographien, bekommen durch ihre Zusammenstellung eine Richtungssinn, den sie für sich allein vielleicht nicht hätten: Frauen Männer Paare — das ist in Birgit Scherzers tänzerischer Welt keine Gleichung, sondern markiert eine abwärts verlaufende Tendenz.

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„Männer“: alleine sind sie schwach — auch wenn sie stark sind. Sie tänzeln, immer locker, Schultern vor, ein Puff links, ein Fausthieb rechts, lächeln, winken locker, immer swingend, alles easy. Der Mann in Gruppen schiebt über die Bühne. Schwarze Hose, weißes Leibchen: Männer unter sich, immer zu einer kleinen, scherzhaften Rauferei aufgelegt. Musik: das Köln-Concert von Keith Jarrett. Die Jungs mal als Sportsfreunde, mal als Arbeitskolonne, mal als ein Haufen Geschäftsleute. Der Mann — ein öffentliches Wesen: stramme Körper, präzise Gesten in geordneter Formation. Ein Atemzug, ein Schlag, ein Kampfschrei: Uahh! Es werden Geschäfte abgeschlossen.

Die in die Gruppenauftritte eingewebten Soli der Tänzer bleiben blaß gegen diese geballte Kraftentladung. Einzig Sven Grützmacher — auch er ist von der Komischen Oper nach Saarbrücken gekommen — zeigt, wie Gefühle ihre Spuren in Körper eingraben können: in seinen kurzen Vorhalten, seinen Übergängen zwischen Ballettpositionen und Alltagsgesten werden die Konturen einer wirklichen Figur sichtbar. Und manchmal tanzt nicht er nach der Musik, sondern die Musik tanzt mit ihm. Ach ja, ein einziges Mal, ganz am Schluß der Choreographie, taucht eine Frau auf: langbeinig, im Supermini, mit fließenden Haaren stöckelt Kristine Keil von rechts nach links über die Bühne. Und angesichts dieser fleischgewordenen Projektion seiner Träume entweicht dem ganzen Männerhaufen stöhnend, pfeifend und zischend die Luft. (Schwach, die Jungs.)

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„Frauen“: alleine sind sie stark — auch wenn sie schwach sind. Acht Frauen zu Blues-Balladen, zur androgynen Stimme von Nina Simone, acht helle Staubmäntel, unter denen sich farbige Explosionen verbergen: Kostüme, Kleider, schwingende Röcke, bunt geblümt, knallrot, getupft, dunkelblau und froschgrün. Stimmige Kleidungsstücke, der jeweiligen Tänzerin auf den Leib geschneidert von Änn Schwerdtle (Bühnenbild und Kostüme). Starke Frauen: Jede für sich eine Person, auch in der Gruppe. Sie tippeln und schweben, rollen und fallen, tragen und stützen sich, spielen Fangen und Nachlaufen, üben die Rituale des Balzens, die Gesten der Lockung, die vielsagenden Blicke: Na, komm schon, Süßer. Die Choreographien zeigen mädchenhaft verspielte Heiterkeit und beinewerfende Revuegirl-Auftritte, selbstbewußte Körper auf dem Laufsteg und einbeinige, scheue Vögel, die sich in ihre Mäntel zurückziehen wie in ein warmes Gefieder. Überhaupt, die Mäntel: sie trennen den öffentlichen vom privaten Körper, sie breiten sich schützend über schlafende, liegende, zusammengekrümmte Frauen, sie dienen als Flügel, als Kopfkissen und Liebesobjekt. Nina Simone singt „Ne me quitte pas“, und Michelle Cassar versucht, sich von ihrem Mantel loszureißen, knüllt ihn zusammen, wirft das Bündel auf den Boden, wendet sich ab — und wird ihn doch nicht los, den Mantel, den Mann — und die Erinnerung. Ein schönes, ein einleuchtendes Bild für den Schmerz der Trennung.

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„Bei den Beziehungen um mich herum reiht sich Scheitern an Scheitern. Dem wollte ich nachgehen“, schreibt Birgit Scherzer einleuchtend zum dritten Teil des Abends. Gedämpfter Trommelwirbel: Wenn Männer und Frauen sich zu Paaren sortieren, wird es ernst, und die Räume schließen sich. Wo vorher Tiefe und Weite durch gestaffelt hängende Stoffbahnen angedeutet waren, wo man sich, je nach Ausleuchtung, in den Alleen des Bois de Boulogne oder in den Straßenschluchten Manhattans wiederfinden konnte, da sind nun alle Wände geschlossen, und das Licht verliert seinen warmen Ton. Die Tänzerinnen und Tänzer stehen als Schatten hinter einer Leinwand. Und zu den suggestiven Live- Rhythmen der Saarbrücker Formation „4 SPEED percussion STUFF“ werden sie zusammengefügt, Paar um Paar, monoton und maschinenhaft. Eine Macht reißt sie zueinander, die vor allem die Frauen auszulöschen scheint, ihre Individualität wegradiert. Jetzt tragen sie alle Schwarz, haben ihre Haare streng zum Knoten gebunden. Und ihr Schwerpunkt hat sich verändert: sie tanzen auf (Zehen-)Spitzen durchs Leben. Ein Schubs, und das Gleichgewicht ist hin.

Männer und Frauen — haben sie einmal zum Paar gefunden — funktionieren nicht mehr nach eigenen, sondern nur noch nach fremden Gesetzen. Das neue Paarwesen löscht die Individuen aus, die sich dann fast ausschließlich in Posen und Klischees bewegen können: Grabschen und Fummeln, Beine aufreißen und Beine zusammenhalten, Abwehren und Weglaufen, Streiten und Streicheln — die vertrauten Gesten des Geschlechterkampfes. „Paare“ — ein mechanisches Ballett, angetrieben von den mitreißenden Schlagzeugern.

Nur manchmal treffen sich zwei für ein scheues Tasten, abgewandten Blickes. Ein kurzer Sprung in ausgebreitete Arme, die Trommel hält den Atem an — bevor der unerbittliche Rhythmus die Paarmaschine weitertreibt.

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Birgit Scherzer beobachtet mit ethnographischem Blick. Wie eine Verhaltensforscherin sammelt und prüft sie Gesten und Ausdrücke des Frauseins, Formen und Bewegungen der Männlichkeit; sie sucht nach Rollenstereotypen wie nach dem individuellen Ausdruck eines bestimmten Körpers. Angewandte Verhaltensforschung am Frauen- und Männerleib, deren Ergebnisse sie mit den stilisierten Bewegungen und Positionen des klassischen Tanzes konfrontiert und zusammennäht. Birgit Scherzer, die an der Dresdener Gret- Palucca-Schule zur Tänzerin ausgebildet wurde, hat einst als Nachwuchshoffnung des DDR-Balletts gegolten. Sie bewegt sich in ihrer Arbeit immer noch im Grenzgebiet zwischen Ausdruckstanz und klassischem Ballett: Manchmal gelingen ihr dabei bestürzend einfache Bilder, suggestive Momentaufnahmen, poetische Augenblicke. Aber was verspricht uns ihr analytischer Blick?

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Daß die Liebe scheitert, daß Trennung die Regel ist, daß wir am Boden kleben bleiben: alles das wissen wir schon. Trotzdem wünschen wir unverdrossen das Gegenteil. Und wir leben von diesem Wunsch. Das ist die Schwäche des ethnographischen Blicks: daß er beim Schauen bleibt und das Wünschen noch nicht gelernt hat.

Frauen Männer Paare. Mit dem Ballettensemble des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken, Choreographie Birgit Scherzer. Weitere Aufführungen: 4., 8., 11., 18., 22., 23. und 30.April.