Rauschgift fürs Volk

Tutzinger Medientage: „Millionen im Heu — TV und die volkstümliche Unterhaltung“  ■ Von Martin Halter

Ein Brunftschrei, ein Stammeln vor Schmerz und Empörung entrang sich dem altgedienten Tierfilmer Eckhard von Mandelsloh, als der Ästhetikprofessor Bazon Brock wieder einmal mit aller ihm zu Gebote stehenden Arroganz und Eitelkeit seine These „Volksmusik ist Volksverdummung“ vortrug. „Herr Professor, lassen Sie uns doch die Heimat! Das Edelweiß... wenn der Hirsch röhrt, und die Zenzi auf der Alm jodelt... das ist doch wirklich etwas Schönes!“ Aber was wissen die intellektuellen Eierköpfe schon von den unschuldigen Wonnen käsender Sennerinnen oder gar — denn Heimat und Natur überleben am schönsten im Fernsehen — des Musikantenstadels! Drei Tage lang diskutierten Journalisten, Pfarrer, Medien- und Sozialwissenschaftler bei den XI. Medientagen der Evangelischen Akademie Tutzing über die volkstümliche TV-Unterhaltung, und von Mandelsloh blieb der einzige, der zugab, Liebhaber des verhandelten Liedguts zu sein.

Keine Frage: Volksmusik, Heimatfilme und auch das Bauerntheater erleben seit einigen Jahren eine Renaissance im Fernsehen. Die Zahl der Volksmusiksendungen ist, wie ZDF-Programmplaner Marthin Berhoud vorrechnete, seit 1981 um das Achtfache gestiegen — vor allem, seit sich RTL und Sat.1 1990 in die „Prime-Time der Gemütlichkeit“ einklinkten. Und wenn am 1.Mai Roberto Blanco bei Tele5 seinen Dämmerschoppen eröffnet, wird endlich auch die bislang noch gähnende „Heimatlücke am Freitag“ geschlossen werden. Die Ursachen des Booms scheinen auf der altdeutschen Hand zu liegen, und die Hellwigs, Reibers und Moiks versäumen den Hinweis auch nie: Das Volk liebe nun mal die fröhlichen Salontiroler, zehn Millionen schunkeln im Saal oder Sessel, wenn Gstanzelhuber und Märsche die deutsche Provinzialität beschwören. In der Tat sind die beachtlichen Einschaltquoten auch für den ZDF-Unterhaltungschef Wolfgang Neumann das stärkste Argument. Für die Privatsender sind die Billigproduktionen zudem ein Mittel, um in die bisher verschlossene Zielgruppe der Alten — 67Prozent des Volksmusik-Publikums sind über 50 Jahre — einzubrechen. „Das Volk bekommt die Musik, die es verdient“, sagte Jochen Kröhne (Tele5) zu den Kritikern, die in Tutzing immer wieder mehr Qualität, Phantasie und Intelligenz einklagten — so als ob das Oktoberfest sich zu einer Vernissage umgestalten ließe. Die „Biermösel Blosn“, die den Tagungsteilnehmern am Abend einen Begriff von „anderer“ Volksmusik vermittelten, dürfen jedoch im Bayerischen Rundfunk nicht auftreten — und im Privat-Dämmerschoppen der schwarzbraunen Haselnuß wollen sie nicht.

Vom Jodler zum Bürgerkrieg

In der Geringschätzung des Publikums unterscheiden sich Produzenten, Moderatoren und Interpreten offenbar kaum von den Kritikern der Volksmusik. In Tutzing waren nur Letztere vertreten, und die schossen mit den Kanonen von Betrug, Volksverdummung und Reichsparteitagsstimmung auf die „Kastelruther Spatzen“. Bazon Brock gab im Eröffnungsreferat den Ton an: Insofern Volksmusik die besondere Art einiger Provinzler, ihre Schmonzetten zu trällern oder Ringelreihen zu tanzen, zum Kristallisationskern „kultureller Identität“ mache, falle sie nicht nur hinter die „abstrakten zivilisatorischen Normen“ von Humanität, Vernunft und universellem Menschenrecht zurück, sondern sei — bei Kroatien und Kaukasus! — der Anfang von Nationalismus und Bürgerkrieg. Schuld an dieser fundamentalistischen „Volksverdummung“ seien weniger die depperten Opfer, auch wenn sie ihren Hexensabbat frech mit „Wir sind das Volk“-Parolen legitimieren und sich so gegen jeden rationalen Einspruch panzerten. Schlimmer sind die Liedermacher, die „mutwillige und gewollte Falschbehauptungen“ über eine heile Welt in Umlauf setzen würden, und die Programmdirektoren, die in ihren „Omnipotenzphantasien“ eine Wahnwelt inszenieren, die sich dann im verderbten Massengeschmack immer wieder von neuem reproduziere. Für Brock ist Volksmusik Rauschgift fürs Volk: eine antiaufklärerische Strategie, eine Verschwörung der reaktionären Kultur gegen die Zivilisation.

Freilich geht es auf der Gegenseite nicht humanistischer zu. Da war nach guter alter ideologiekritischer Manier viel von Betrug und Manipulation die Rede, von „blutigem Ernst“ und der perfiden Entpolitisierung geistig „Minderbemittelter“. Selbst der sonst besonnene TV-Kritiker Thomas Thieringer mochte in seinem Referat nur von „dumpfem Sprachgestammel“, nervtötendem Lärm und Goebbelsscher Narkotisierungsstrategie sprechen.

Metatexte von Heino&Hannelore

Etwas differenzierter näherte sich Alex Demirovic vom Frankfurter Institut für Sozialforschung dem Thema. Zwar vertrat auch er die These, das (falsche) Etikett „Volksmusik“ behaupte einen totalitären Alleinvertretungsanspruch; zwar hörte auch er, mit Adornos kulturindustriellem Verblendungszusammenhang donnernd, schon aus Operettenverslein wie „Die Mädchen sind von besonderem Reiz/ in der Schweiz“, Chauvinismus, Fremden- und Frauenfeindlichkeit, ja die bumsfidele „Begleitmusik zum Sextourismus“ heraus. Aber er schlug immerhin auch vor, Volksmusiksendungen einmal als „postmoderne Zitatcollage“ oder gar — denn selbst Heino singe nur „Metatexte“ von Heimat — als von Intellektuellen veranstaltetes „surreales Happening für die kleinen Leute“ zu betrachten. Und dieser Ansatz, der den fiktiven Charakter der (aberwitzigen) Inszenierung von synthetischer Unschuld und intakter Natur reflektiert, trägt wahrscheinlich weiter, als Bazon Brocks schlicht realistisches Konzept, das die Texte — den performativen Sprachakt, die musikalische „Stimmung“, die Erfahrung medial vermittelter Rezeption ausblendend — bloß als Sammlung von verlogenen „Fakten“ und Behauptungen nimmt. Das Manko dieser Tagung: die Motive der Schunkler und Jodler kamen — von vagen Statistiken und grimmigen Spekulationen abgesehen — kaum einmal zur Sprache. Daß das Singen und Sagen von Herz, Heimat und Edelweiß nicht nur ein antimodernistischer Affekt sein könnte, sondern auch das schäbige Surrogat einer echten Sehnsucht, liegt nahe. Nicht zufällig geht der Boom volkstümlicher Unterhaltung mit ökologischem Kitsch oder der Entdeckung der verlorenen Heimat auch in ehemals linken Kreisen einher. Was man in Tutzing vermißte, waren nicht nur bekennende Lustige Musikanten, sondern Analysen, die ihren Gegenstand wenigstens für einen Moment als satisfaktionsfähig betrachtet hätten. Die herablassende kritische Arroganz rächte sich: Brocks universalistische Abstraktionen verblaßten im Tutzinger Schloßpark vor einer wie von der Bavaria ausgeborgten Alpenkulisse am Starnberger See.

Bei den Podiumsdiskussionen kamen dann prosaischere Fragen aufs Tapet: Wie ist der „ungeheure Nachholbedarf“ der Ossis zu erklären? Ist das familiäre Idyll von Marianne&Michael, Heino&Hannelore womöglich nur Kehrseite des immer brutaleren „Reality-TV“? Und wächst nicht dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Pflicht zur Mäßigung zu? Peter Glotz und der deutsche PEN-Vorsitzende Gert Heidenreich mahnten ARD und ZDF immer wieder, sich nicht beim Schielen auf Einschaltquoten der Privat-Konkurrenz anzupassen und so die Legitimation des Gebührenprivilegs zu verspielen.

„Problemfreie Zone“

Dirndl-Jodln, nackte Gewalt und dann auch noch Spiegel-TV: „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, resümierte der CSU-Medienexperte Klaus Kopka die Entwicklung des Privatfernsehens. Mit Heidenreichs Argument, Volksmusik auf allen Kanälen bedeute Wiedervereinigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Stammtischs, konnte sich der Bayer dagegen gar nicht anfreunden. Einmal, weil die „problemfreie Zone“ Menschen zusammenführt und so dem regionalistischen Selbstbewußtsein wie dem deutsch-deutschen Zusammenwachsen diene. Und dann gelte immer noch „Besser schunkeln, als sich an Kindern vergreifen.“

Zumal blaublauer Enzian und Stubenmusi, wie Eckhard von Mandelsloh aus seinem reichen Erfahrungsschatz plauderte, nicht etwa Ausländerhaß oder dumpfen Nationlismus befördere, sondern vielmehr im Stall die Leistung der Milchkühe steigern und auch in der freien Natur unerwartete Wirkungen hervorbringe. Kürzlich habe es seine Frau — als ehemalige deutsche Meisterin im Speerkampf — durch die Kraft ihrer Stimme vermocht, scheue Gamsböcke, die zwei nervöse Journalisten vertrieben hatten, wieder näher vor seine Kamera zu locken.