Rußland will Seemacht werden

■ Kassatonow entläßt Schwarzmeerflotten-Konteradmiral Koschin/ Russische Nationalisten errichten Barrikaden vor Oberkommando in Sewastopol/ GUS-Flottenkommandeur wird zur Krim geschickt

Sewastopol (taz/afp) — „Die Flagge der Sowjetmarine flattert über den Weltmeeren. Früher oder später werden die Vereinigten Staaten begreifen, daß sie nicht länger Herren der Meere sind.“ Mit dieser Formulierung hatte Sergej Gorschkow, ehemaliger Flottenadmiral der UdSSR, auch die Funktion der sowjetischen Schwarzmeerflotte ziemlich genau auf den Punkt gebracht. Es ging um Abschreckung, Supermacht-Ansprüche, schließlich um die Aufteilung der Welt in zwei Militärblöcke, die sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden.

Boris Jelzin, seit Beginn der Perestroika immer bemüht, sich als Radikalreformer zu profilieren, scheint trotz begonnener Abrüstung in die gleichen Fußstapfen steigen zu wollen. Jetzt geht es zwar weniger um die Frage „Wer kann weltweit mit militärischer Überlegenheit protzen?“, sondern darum, ob Rußland auch weiterhin seinen Status sichert, imperiale Großmacht Nummer eins in der noch bestehenden GUS zu sein. Doch Jelzin ist offenbar fest entschlossen, die „russischen Interessen“ durchzusetzen. So haben gestern Marineinfanteristen der GUS um die Gebäude des Flottenstützpunktes Sewastopol auf der Krim Stellung bezogen. Mit dieser Maßnahme „sollen die Güter der Schwarzmeerflotte geschützt werden“, kommentierte der Pressedienst der GUS-Flotte. Eine ähnliche Aktion hatten am Dienstag abend russische Nationalisten gestartet. Nachdem die Ukraine am Montag verkündet hatte, sie übernehme die Kontrolle „über sämtliche konventionellen Streitkräfte der früheren Sowjetunion“, und Jelzin seinerseits mit einem Dekret antwortete, das die Schwarzmeerflotte Rußland unterstellt, waren Mitglieder der russischen „Republikanischen Bewegung“ zum Oberkommando in Sewastopol gezogen und protestierten gegen den ukrainischen Anspruch auf die Flotte. Auch der Oberkommandierende der GUS-Streitkräfte hat sich auf die Seite Rußlands gestellt. In einer Rede vor dem russischen Deputierten-Kongreß verteidigte er die „Idee einer starken russischen Streitmacht“.

Später, am Dienstag abend, errichteten in Sewastopol mehrere Dutzend Personen Barrikaden auf den Zufahrtsstraßen zu dem Gebäude des Schwarzmeerflotten- Oberkommandos. Damit sollte nach eigenen Angaben verhindert werden, daß eine Abordnung der ukrainischen Regierung „sich des Flottenkommandeurs, Admiral Igor Kassatonow, bemächtigt“. Die Delegation war kurz zuvor auf der zur Ukraine gehörenden Krim eingetroffen, um das Dekret von Präsident Leonid Krawtschuk zur Übernahme der Schwarzmeerflotte durchzusetzen. Konteradmiral Boris Koschin wurde darin zum „Oberkommandierenden der Schwarzmeeflotte“ ernannt.

Die promte Reaktion Rußlands: Der Kommandant der Schwarzmeerflotte, Kassatonow, entließ gestern den zuvor von der Ukraine eingesetzten Konteradmiral Koschin. Er wolle so, begründete Kassatonow die Entlassung, „die Spaltung und die nationalen Spannungen in der Armee unterbinden“. Auch alle anderen Offiziere, die „parallele Befehlsstrukturen“ aufgebaut haben, sollen von ihren Posten entfernt werden. Die Flotte habe das Jelzin-Dekret erhalten und werde so schnell wie möglich die Flaggen der früheren russischen Marine auf allen Schiffen hissen, verkündete Kassatonow.

Daß alles wie vom russischen Präsidenten geplant abläuft, darum will sich der Oberkommandierende der Kriegsmarine der GUS, Admiral Tschernawin, kümmern. Er wurde mit der Durchsetzung des Jelzin- Dekretes beauftragt und soll demnächst nach Sewastopol fliegen.

Dabei ist nicht auszuschließen, daß er sich an diesem Auftrag die Zähne ausbeißt. Denn so einfach will sich die Ukraine der russischen Übermacht offensichtlich nicht beugen. Der Sprecher der ukrainischen Botschaft in Moskau, Dolganow, verkündete gestern, das ukrainische Parlament tage noch am Mittwoch, um über die endgültige Zukunft der Schwarzmeerflotte zu beraten. Darüber hinaus ist in Kürze, so der Botschaftssprecher, ein Treffen zwischen Präsident Jelzin und Krawtschuk geplant, um das Problem „zu regeln“. BZ