DEBATTE
: Für eine kürzere Arbeitszeit

■ Der Vorschlag, zur 40-Stunden-Woche zurückzukehren, polarisiert

Plötzlich wird die Lohnhöhe zum positiven Faktor der Inlandsnachfrage. Nein, es sind nicht die Gewerkschaften, die so ihre Forderungen in der aktuellen Tarifrunde begründen. Seit Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche in die Debatte geworfen hat, beeilen sich diverse FDP- und Unionspolitiker, diese Forderung mit der ihnen eigenen Inkompetenz nachzuplappern.

Erinnern an den Kampf für 35 Stunden

Abseits solcher Diskussionsbeiträge minderer Qualität, die mit dem obligatorisch populistischen Seitenhieb auf „gewerkschaftliche Verkrustungen“ gewürzt werden, hat der Vorschlag Murmanns einen rationalen Kern: Die Debatte um die Arbeitszeit, um ihren Umfang, ihre Struktur und soziale Verteilung muß wieder neu aufgenommen werden. Aber anders, als Murmann denkt. Beim großen Arbeitskampf 1984, als die Gewerkschaften mit einem siebenwöchigen Streik die 40-Stunden-Barriere der Unternehmer durchbrachen, ging es wesentlich um eine Umverteilung der vorhandenen Arbeit zugunsten des Millionenheeres von Arbeitslosen in der damaligen Bundesrepublik. Die in Etappen bis 1995 durchgesetzte 35-Stunden-Woche war der spezifische Beitrag der Gewerkschaften zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Ermöglicht wurde er durch Verzicht auf realisierbare Lohnzuwächse der Arbeitsplatzinhaber und durch begrenzte Erweiterung der Flexibilität im Einsatz der Arbeitskraft.

Darum geht es jetzt beim Murmann-Vorschlag vor allem: Bei gleichbleibender Jahresarbeitszeit soll durch die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche die Maschinenlaufzeit erweitert werden. Der Vorschlag zielt also vor allem darauf, die Option der Unternehmer auf die Verteilung der Arbeitszeit zu erweitern und damit Produktionskosten zu senken. Mit gutem Grund haben die Gewerkschaften seinerzeit dem unternehmerischen Zugriff auf die Verteilung der Arbeitszeit Grenzen gesetzt: Eine Entlastung der Beschäftigten vom Arbeitsstreß ist nur bei alltagsnaher Arbeitszeitverkürzung möglich, also etwa durch wöchentliche Reduzierung statt durch zusätzlichen Urlaub. Die Gewerkschaften haben es mit dieser Position in ihren eigenen Reihen schwer gehabt, weil sie sie — entsprechend ihren überkommenen Strukturen — vormundschaftlich durchgesetzt haben, ohne den Versuch zu machen, die Zugriffsrechte der einzelnen auf die Verteilung ihrer Arbeitszeit zu stärken. Seitdem hat sich die Diskussion weiterentwickelt, haben sich auch die Arbeitsbedingungen in eine Richtung bewegt, die immer mehr Beschäftigten eine individuelle Disposition über die Verteilung ihrer Arbeitszeiten eröffnen könnte, wenn sie die Rechte dazu in die Hand bekämen.

Eine pure Verlängerung der Arbeitszeiten nach Murmanns Vorstellungen wäre ein gesellschaftspolitischer Rückschritt, der nur eines bewirken würde: Der Druck auf die Beschäftigten stiege, und die Trennung zwischen Vollzeitbeschäftigten Stammbelegschaften auf der einen, marginalisierten Randbelegschaften sowie unstetig oder gar nicht Beschäftigten auf der anderen Seite würde vertieft. Der gewerkschaftliche Kampf um Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung hat — neben konjunkturellen Faktoren — in den letzten Jahren zum Abbau von Arbeitslosigkeit in Westdeutschland beigetragen. Wer dies rückgängig machen will, treibt die Arbeitslosigkeit wieder in die Höhe.

Schon allein im westdeutschen Kontext wäre dies ein Rückfall, der eine radikale Entmachtung der Gewerkschaften voraussetzen würde. Ob dies mit demokratischen Mitteln zu machen ist, sei dahingestellt (es steht hier mehr auf dem Spiel als nur ein Geplänkel um irgendwelche Regulierungen in der Arbeitswelt). Unter den Bedingungen der explodierenden Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland gewinnt der Vorstoß Murmanns zusätzliche Brisanz. Denn inzwischen ist klar, daß die industrielle Basis in den neuen Ländern weitgehend und unwiederbringlich zerstört ist, daß es bis auf wenige produktive Inseln keine Neuindustrialisierung von arbeitsmarktpolitischer Relevanz geben wird. Das Beschäftigungsniveau wird nach dem Auslaufen all der die wirkliche Situation noch verschleiernden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen weit unter vergleichbares westdeutsches Niveau sinken.

Vereint in die Zwei-Drittel-Gesellschaft

Die Zwei-Drittel-Gesellschaft, die in der sozialpolitischen Diskussion der letzten Jahre immer als Gefahr für Westdeutschland beschworen wurde, ist nun in Gesamtdeutschland Realität. Während sie in Ostdeutschland eher zur Halbe-halbe-Gesellschaft tendiert, wird sie — vermittelt durch die Wanderungsbewegung von Ost nach West — in den westdeutschen Regionen dafür sorgen, daß sich die noch vorhandene Sockelarbeitslosigkeit verfestigt und steigt. Die Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung in Ost und West aus dem immer noch nahezu allein existenzsichernden Erwerbssektor — dieser gesellschaftspolitische Skandal ist nach der Vereinigung aktueller denn je.

Notwendig wäre in dieser Situation nicht eine Diskussion um die Wiedereinführung der 40-Stunden- Woche, sondern eine neue gesellschaftliche Diskussion über die Umverteilung von Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland. Und eine neue Diskussion darüber, ob das allein auf Erwerbsarbeit aufgebaute soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik noch problemadäquat ist, wenn großen Teilen der arbeitsfähigen und arbeitswilligen Bevölkerung der Zugang zur Erwerbsarbeit faktisch versperrt ist auch bleiben wird. Denn selbst wenn es gelänge, die vorhandene Erwerbsarbeit irgendwann gerechter zu verteilen, haben doch die Erfahrungen in der Bundesrepublik vor der Vereinigung gezeigt, daß Arbeitszeitverkürzung zwar zum Abbau von Arbeitslosigkeit beiträgt, sie aber nicht zum Verschwinden bringt. — Was soll also geschehen mit jenen Millionen Ostdeutschen, die jetzt aussortiert werden und wegen ihres Alters, wegen ihres Geschlechts, wegen ihrer Resignation keine Chance mehr auf Wiedereingliederung haben? Eine verlorene Generation, die ins Nichts fällt, wenn sich die Sozialpolitik nichts einfallen läßt.

Vorwärts zur 30-Stunden-Woche!

Darauf haben die Organisatoren der Erwerbsarbeit, die Murmanns und Steinkühlers, wenig Einfluß. Aber es liegt in ihrer Hand, ob sich der Erwerbssektor zu den Arbeitslosen hin tendentiell öffnet oder abschließt. Die Unternehmer haben, wie der Vorstoß Murmanns zur Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche zeigt, ein natürliches Interesse daran, mit weniger Menschen mehr zu produzieren. Das betriebswirtschaftliche Kalkül liegt ihnen näher als gesamtgesellschaftliche Interessen. Für die Gewerkschaften ist es von existentieller Bedeutung, ihre erwerbstätigen Mitglieder vom Konkurrenzdruck durch die Arbeitslosen zu entlasten.

Die gesellschaftspolitisch progressive Antwort auf dieses Problem ist: Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung war nie so dringlich und aktuell wie heute. Wir brauchen einen neuen Schub tariflicher Arbeitszeitverkürzung — nicht zurück zur 40-Stunden-Woche, sondern vorwärts zur 30-Stunden-Woche! Daß dies nicht wie 84 als flächendeckende Wochenarbeitszeitverkürzung durchgesetzt werden muß, entspricht dem innergewerkschaftlichen Diskussionsstand. Vom täglichen Sechs-Stunden-Tag oder der Vier-Tage-Woche bis zum bezahlten Vierteljahresurlaub müßte alles möglich sein. So könnten individualistischer Zeitgeist und gesellschaftspolitische Solidarität mit den Arbeitslosen sich verbünden in Richtung auf eine demokratische Arbeitskultur. Martin Kempe