Ausnahmezustand in Bosnien-Herzegowina verhängt
: Bosniens Muslimanen leisten Widerstand

■ In Sarajevo kam es gestern erneut zu schweren Kämpfen zwischen serbischen Milizen und der Bundesarmee auf der einen, und kroatischen und muslimanischen Milizen auf der anderen Seite. Präsident Izetbegovic kündigte die Bildung eigener Streitkräfte an.

Es geschah über Nacht. Als gestern die Bürger des neuen bosnischen Staates ihre Radiogeräte einschalteten, hörten sie die neuen Entscheidungen der bosnischen Übergangsregierung: Ab heute, hieß es da, ist Bosnien per Dekret nicht mehr eine „sozialistische Republik“, sondern ein freier Staat Europas. Es gilt eine neue Verfassung, und wegen der dramatischen innenpolitischen Lage wurde der Ausnahmezustand verhängt. Das Parlament ist zwar nicht formell aufgelöst, ist aber seit dem Auszug der serbischen Politiker beschlußunfähig. Die serbisch dominierte jugoslawische Bundesarmee wird nun als Besatzungsmacht betrachtet. Mit anderen Worten: Die Muslimanen und Kroaten Bosniens nehmen den unerklärten Krieg der jugoslawischen Armee und serbischen Freischärlerverbände auf.

In weiteren Mitteilungen informierte die neue Führung, an deren Spitze der alte Präsident Alija Izetbegovic steht, ab nun werde die bosnische Territorialverteidigung zu einer bosnischen Bürgerwehr und späteren Armee umgeformt. Grüne Uniformen und das mittelalterliche bosnische Wappenbild von Fojnica als linkes Schulterzeichen seien nun die Merkmale der neuen Soldatenverbände. Die bisherigen Kommandanten der Territorialverteidigung, zwei Serben, seien ihres Amtes enthoben. Izetbegovic begründete die Verhängung des Ausnahmezustandes mit der Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Krieges und forderte „dringend“ ein Eingreifen des UNO- Sicherheitsrates.

Danach wurde eine Erklärung verlesen, die Rätsel aufwirft. Sie ist unterzeichnet von General Milutin Kukanjac und dem bisherigen Innenminister Bosniens, Alija Delminustafic. Kukanjac ist serbischer General und aus Belgrader Sicht Oberbefehlshaber des zweiten jugoslawischen Militärbezirkes, sprich der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien. Delminustafic ist Muslimane und ein enger Vertrauter von Präsident Izetbegovic, für den Bosnien nicht länger Teil Jugoslawiens, sondern ein eigenständiger Staat ist. Beide fordern in der Erklärung alle „paramilitärischen Verbände“ der Hauptstadt Sarajevo auf, ihre Waffen den neuen Territorialstreitkräften auszuhändigen und sich deren Kommando zu unterstellen. Noch ist es zu früh zu mutmaßen, ob sich damit Teile der jugoslawischen „Besatzungsarmee“ von Belgrad lossagten und sich dem Kommando des bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic unterstellten. Kein Geheimnis ist es jedoch, daß Izetbegovic seit langem versucht, die 120.000 Mann der jugoslawischen Bundesarmee, die in Bosnien stationiert sind, zu „neutralisieren“. Militärpolitisch ist dies für den Staat Bosnien lebenswichtig. Beobachter räumen Izetbegovic jedoch keine diesbezüglichen Chancen ein und sehen auch in den Schritten der gestern ausgerufenen Ausnahmeregierung nur einen verzweifelten Aufschrei. Der Sarajevoer Übergangsregierung gehören nämlich nur Muslimanen und Kroaten an, nachdem die serbischen Spitzenpolitiker das Parlament in der Hauptstadt verließen, um im Norden des Landes, in Banja Luka, eine serbische Gegenregierung der „provisorischen serbischen Republik Bosnien“ zu bilden. Bezeichnenderweise ließen es die serbischen Politiker vollkommen offen, wie groß dieses serbische Territorium sein soll und welche Teile Bosniens man noch „befreien“ müßte. Das Endziel formulierte aber bereits der Vorsitzende der „Serbischen Demokratischen Partei“, Radovan Karadzic: „68 Prozent des bosnischen Territoriums sind historisches serbisches Land.“ Eine Aussage, die Krieg bedeutet, da die serbische Minderheit Bosniens nicht mehr als 32 Prozent der Bevölkerung stellt. Selbst für Sarajevo fordert Karadzic eine Teilung der Stadt, dabei stellen in der Hauptstadt die Muslimanen die Hälfte der Einwohner, die Serben knapp 29 Prozent.

Selbst der Staatsrundfunk, Radio Sarajevo, gesteht in dieser Situation ein, die Zeichen ständen auf Sturm. Nach Berichten des Senders brachen gestern zur Mittagszeit erneut schwere Straßenkämpfe in der Hauptstadt aus, nachdem es in der Nacht ruhig gewesen war und sich die Menschen an die Ausgangssperre hielten. Zur Mittagszeit strahlte das bosnische Fernsehen einen Bericht aus, nachdem die Regierung Funksprüche serbischer Freischärler- und Armeeverbände in den Bergen um Sarajevo abgehört habe. Darin hieße es, man müsse die Izetbegovic-Regierung stürzen und die Altstadt mit dem Regierungssitz bombardieren.

Daß es an einer solchen Entschlossenheit nicht mangelt, läßt sich auch in einem Brief, der im Belgrader Fernsehen verlesen wurde, ablesen. In dem Schreiben an die „bosnischen Machthaber“ beschuldigt General Blagoje Adzic, nach serbischer Ansicht Oberbefehlshaber aller Armeetruppen, Izetbegovic, daß es dieser zulasse, daß „ausländische Armeen“ in Bosnien intervenierten. In der verklausulierten Mitteilung meint der General, kroatische, slowenische und vereinzelt Militärberater westlicher Länder seien nach Bosnien „eingesickert“. Dies habe die Sarajevoer Führung begrüßt, da sie damit glaube, das „serbische Volk“ leichter „vertreiben“ zu können. Die Äußerung Adzics zielt darauf ab, das Eingreifen der Bundesarmee in Bosnien zu rechtfertigen.

Zu schweren Kämpfen zwischen kroatischen Einheiten und der jugoslawischen Bundesarmee kam es gestern auch wieder in der 80 Kilometer südlich von Sarajevo gelegenen Stadt Mostar, wo mehrheitlich Kroaten leben. Nach Rundfunkberichten wurden mehrere Vororte unter Artilleriefeuer genommen. In der Nacht und am Morgen kam es außerdem zu Gefechten zwischen Serben und Muslimanen in Zvornik an der Drina. In der Stadt an der Grenze zu Serbien wurden eine Person getötet und neun verletzt. Nach Berichten des bosnischen Rundfunks wurde die Stadt von serbischen Milizen eingenommen. Tausende Muslimanen seien mit Autos und Lastwagen über die Drinabrücke nach Serbien geflohen. Roland Hofwiler