An Halb-Prozent-Hürde gescheitert

Der Schlichtungsvorschlag im Tarifstreit im öffentlichen Dienst ist de facto an einem halben Prozent gescheitert/ Am Montag fällt in Stuttgart die Entscheidung über den Streik  ■ Aus Berlin Martin Kempe

Als der Vorhang sich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zur Geisterstunde hob, und die Schlichter im Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes das Ergebnis ihrer tagelangen Verhandlungen präsentierten, war schnell klar: Die Schlichtung ist gescheitert, obwohl sie im formellen Sinne nicht gescheitert ist. Den wartenden Journalisten wurde eine Schlichtungsempfehlung verkündet, nach der die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst ab 1. April um 5,4 Prozent erhöht werden sollen. Für die Monate Januar bis März sollen einmalig 500 Mark gezahlt und das Urlaubsgeld um 100 Mark raufgesetzt werden. Aber die sechs Arbeitgebervertreter im Schlichtungsgremium mochten sich dem Votum des vorsitzenden Schlichters, des ehemaligen baden-württembergischen Innenministers Walter Krause (SPD), nicht anschließen. Sie ließen sich überstimmen.

Tagelang hatte das Schlichtergremium - bestehend aus jeweils sechs Vertretern der Tarifparteien, dem von der ÖTV benannten Vorsitzenden Krause und dem von den Arbeitgebern als Stellvertreter benannten ehemaligen Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) - in geheimer Verhandlung hinter den verschlossenen Türen eines Hotel in Pegnitz um die Prozente gefeilscht. Ergebnis: Beide Parteien sind von ihren Maximalpositionen (ÖTV: 9,5 Prozent, Arbeitgeber: 3,5 Prozent) herunter, aber über eine verbleibende Differenz von 0,4 Prozent plus Zusatzregelungen konnten sie sich nicht mehr einigen. Die Arbeitgeber hatten laut Zimmermann, der als Stellvertreter laut Schlichtungsordnung nicht stimmberechtigt ist, zum Schluß Einkommensverbesserungen von 5 Prozent plus 500 Mark für Januar bis März geboten. Eine Erhöhung des Urlaubsgeldes lehnten sie ab. Damit war für sie angesichts der leergefegten öffentlichen Kassen die äußerste Grenze erreicht: „Wem das zu wenig ist, der muß streiken“, rief Zimmermann sichtlich erregt aus. Der Schlichterspruch Krauses lehnt sich, was die Prozente angeht, an den kürzlich erzielten Abschluß im Bankgewerbe an, der allerdings mit Nebenregelungen um einiges höher ist. Dies mochte Zimmermann als Richtgröße nicht gelten lassen: „Die Banken [hatten] ihr bestes Jahr und die öffentlichen Arbeitgeber ihr schwierigstes Jahr nach dem Krieg hinter sich.“ Tatsächlich stehen die staatlichen Haushalte auf Grund der Belastungen durch die deutsche Einheit unter weitaus höherem Druck als die private Wirtschaft, die zu großen Teilen von der Einheit profitiert hat. Andererseits hatte der Verhandlungsführer der Arbeitgeber, Innenminister Rudolf Seiters, im Vorfeld der Tarifauseinandersetzungen eingeräumt, es gebe durchaus einen Einkommensrückstand der Staatsbeschäftigten und in einigen Bereichen falle es deshalb bereits schwer, dringend benötigtes Personal zu finden. Nun wies er den Schlichtungsspruch im Namen der öffentlichen Arbeitgeber zurück. „Der Vorschlag der Schlichter geht an der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage vorbei“, erklärte er. „Zu teuer“, kommentierten auch die Arbeitgeber in der freien Wirtschaft. Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes dagegen stehen unter dem Druck ihrer unzufriedenen Mitglieder, die zumindest ihre durch Inflation sowie Steuer- und Abgabenerhöhungen bedingten Einkommensverluste kompensiert haben wollen. ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies forderte Bund, Länder und Gemeinden auf, ihre „Blockadehaltung“ endlich aufzugeben. Nur so könnte ein Streik verhindert werden. Am Montag werden die Tarifparteien in Stuttgart über den Schlichterspruch verhandeln. Erst wenn auch diese Verhandlungen gescheitert sind, können die Gewerkschaften zu Urabstimmung und Streik aufrufen. Die Vorbereitungen zum Arbeitskampf laufen allerdings schon seit Wochen auf Hochtouren. Um die Verschärfung des innenpolitischen Klimas durch einen Streik im öffentlichen Dienst wissen beide Parteien. Angesichts der relativ kleinen Differenz zwischen den zuletzt im Schlichtungsverfahren bezogenen Positionen herrscht zwar Skepsis. Aber ausschließen will niemand, daß es doch noch zu einer Einigung kommt.