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Hier arbeitet niemand für die Rente

In Baia Mare, einer der verseuchtesten Städte Rumäniens, beträgt die Lebenserwartung nur 54 Jahre/ Die Schwefel-, Blei- und Kupferhütte Phoenix erstickt das Land und die Menschen  ■ Aus Baia Mare Keno Verseck

Früher war Baia Mare ein schönes Städtchen. Vor dem Ersten Weltkrieg ließen sich hier die Budapester Maler nieder und gründeten eine Künstlerkolonie. Sie entdeckten, daß der Himmel über Baia Mare von ganz eigentümlichem Blau ist. Später entstand die Malerschule und überall aus Europa kamen Künstler her. Dann wurde das Phoenix-Werk gebaut. Bis in die sechziger Jahre war es nicht so schlimm mit der Verschmutzung. Danach wurde nichts mehr am Werk gemacht, nur immer mehr produziert. Und seit der Zeit ist das besondere Blau am Himmel von Baia Mare verschwunden.

Der sechzigjährige Maler Agoston Vésö erzählt die Geschichte der nordrumänischen 150.000 Einwohner zählenden Stadt im Distrikt Maramures auf seine Art. Vésös Christus-Darstellungen passen zu der Geschichte vom Himmel über Baia Mare. Schmale, kantige Gesichter mit großen, geschlossenen Augen und starren Lippen. Sie sehen zugleich wie Lebende und Tote aus.

Wenn man das Haus des Malers verläßt, fängt einen die Realität wieder ein. Selbst bei gutem Wetter wirkt die verblichene Schönheit der Altstadt trostlos. Von grauen Fassaden bröckelt der Putz, die Straßen sind weithin mit Schlaglöchern übersät, Baumgerippe säumen sie. Im Stadtflüßchen fließt eine gelbe, giftige Brühe, in der ein Fisch keine Minute überleben würde. Die Tristesse macht mürrisch und aggressiv. Das Phoenix-Werk frißt die Stadt und die Menschen. Baia Mare gehört zu den verseuchtesten Städten Rumäniens; die regierungsfreundliche Tageszeitung 'Adevarul‘ spricht von einem „Verschmutzungsinferno“. Allein an Schwefeldioxid rieseln nach vorsichtigen Schätzungen täglich 30 bis 40 Tonnen nieder. Wer hier lebt, arbeitet nicht für die Rente: 54 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Baia Mare. Sie liegt 17 Jahre unter dem Landesdurchschnitt.

Vom Glanzstück zum Trümmerhaufen

Die Geschichte des Phoenix-Werkes reicht zurück ins Jahr 1927, als man in der Nähe der Stadt eine große Kupferhütte baute. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen neue Betriebsteile, unter anderem für die Schwefelsäure- und Edelmetallproduktion sowie die Bleiverarbeitung, hinzu. „Bis in die sechziger Jahre war Phoenix das Glanzstück von Baia Mare“, sagt Alexandru Csiky, der als Ingenieur für Nichteisenmetallurgie 33 Jahre im Werk arbeitete und heute einer der elf Stadtratsmitglieder ist. „Namhafte Firmen wie Siemens gehörten zu unseren Abnehmern und Ausrüstern.“ Im Zuge rigoroser Sparpolitik gab der Staat Anfang der siebziger Jahre die Direktive aus, in Zukunft nur noch rumänische Anlagen zu verwenden. Auf den Tischen der Phoenix-Verwaltung landete ein „wissenschaftliches Gutachten“, das die Überlegenheit rumänischer Technologie bewies. Ausländische Technologie durfte fortan nicht mehr gekauft werden.

Auch heute noch ist Phoenix Rumäniens wichtigster Lieferant von Schwefelsäure, elektrolytischem Kupfer und Bleiprodukten. Für den Export werden Natriumprodukte und Bleichmittel hergestellt. Bei voller Auslastung der Kapazitäten deckt die Jahresproduktion von rund 40.000 Tonnen elektrolytischem Kupfer 57 Prozent des rumänischen Bedarfs, bei Schwefelsäure sind es mit 186.000 Tonnen pro Jahr sogar 93 Prozent. Laut Phoenix-Unterlagen mußte die Produktion wegen Energie- und technischer Probleme jedoch drastisch reduziert werden. Im vergangenen Jahr ist die Firma überdies in eine staatliche Aktiengesellschaft umgewandelt worden. Direkte Subventionen gibt es seitdem, wie für alle Betriebe, nicht mehr. So konnten 1991 lediglich 19.730 Tonnen elektrolytisches Kupfer und 65.150 Tonnen Schwefelsäure geliefert werden. Csiky bringt die Lage auf eine kurze Formel: „Das Werk ist heute ein Trümmerhaufen, die Umweltsituation eine Katastrophe.“

Auf dem Weg zur Phoenix-Fabrik am nördlichen Stadtrand erstrecken sich über Hunderte von Metern eintönige Arbeitersiedlungen, die zumeist halbfertigen Baracken ähneln. Überall sind die Wege aufgerissen, Rohrleitungen werden repariert. Es dampft und qualmt, wo immer es möglich scheint — aus den Erdlöchern, aus defekten überirdischen Fernwärmeleitungen und sonstigen Rohren, aus kleinen und großen Schornsteinen.

„Über die Umwelt reden wir nicht“

Direkt vor der Fabrik wird der Schwefelgeruch und -geschmack der Luft unerträglich. Der Mund trocknet aus, später folgen Brechreiz und Kopfschmerzen. Daß ich mir ein Tuch vor den Mund binde, erregt Aufsehen und wird belächelt. „Ich atme das Zeug seit Jahrzehnten ein“, sagt ein älterer Arbeiter. Die meisten Angesprochenen können sich nicht einmal zu einer solchen Aussage durchringen. Es löst zwar Interesse aus, daß sich ein deutscher Journalist nach Baia Mare verirrt hat, aber dann kommt der Hinweis auf die immer noch aktive Securitate und die „Kommunisten an der Macht“. Ein Arbeiter ist schließlich bereit, mit mir zu reden, nachdem ich ihm versichere, daß ich seinen Namen nicht wissen will. „Die Arbeitsbedingungen und die Stimmung unter den 3.500 Arbeitern sind gut“, sagt der Mann, der in der Arbeitsschutzabteilung beschäftigt ist. Bei nur sechs Stunden Arbeitszeit erhalten die Beschäftigten inklusive Zuschläge einen monatlichen Nettolohn zwischen 10.000 und 15.000 Lei (43 bis 65 D- Mark), der knapp über dem rumänischen Durchscnitt liegt. Besondere medizinische Vorsorge oder Untersuchungen gibt es bei Phoenix nicht, dafür monatlich einen Liter Milch umsonst. Auf die Umweltverschmutzung angesprochen, sagt der Arbeiter: „Darüber finden im Werk keine Diskussionen statt. Viele kommen sowieso von außerhalb, denen ist es egal.“

Vasile Manole, Phoenix-Generaldirektor, würde zwar gerne ein Interview geben, hat aber „keine Zeit“. Er autorisiert einen Stellvertreter, doch der winkt ab. „Manole will sich doch nur von der lästigen Aufgabe befreien, und dafür soll ich mich jetzt in die Nesseln setzen. Nein danke!“ Schließlich verspricht der Ökonomische Direktor für den nächsten Vormittag ein Interview. Er will einen Wagen mit Chauffeur schicken, „damit Sie sich den Weg nicht noch einmal heraufquälen müssen.“ Eine Betriebsbesichtigung kann auch er nicht genehmigen, „aus Arbeitsschutzgründen“.

Viel versprochen, nichts geändert

Florin Spadaru, Vorsitzender der regionalen Gruppe der ökologischen Bewegung Rumäniens (MER), hat seit 1990 umfangreiches statistisches Material über die Umweltbelastung der Region gesammelt. Darunter befinden sich großenteils Untersuchungen, die während der Ceausescu-Zeit streng geheim waren und erst nach der Revolution im Dezember 1989 publiziert wurden. „Die Situation ist schrecklich“, sagt Spadaru. „Baia Mare dürfte zu den verseuchtesten Orten in ganz Europa gehören.“ Laut den Unterlagen wurden in den letzten Jahren jährlich 30.000 bis 50.000 Tonnen Schwefeldioxid, 3.000 Tonnen Metallstaub, darunter 460 Tonnen Blei- und weitere zig Tonnen Kadmium-, Zink- und Arsenstaub in die Luft geblasen.

Meßstellen des Umweltministeriums stellen bei Analysen regelmäßig fest, daß die zulässige Höchstmenge an Schwfeldioxid, Kadmium und Blei in der Luft zum Teil um das Zigfache überschritten wird. Direkt berieselt von den Schadstoffen werden auch rund 18.000 Hektar Ackerland und Wald im Umkreis. Nach einer umfangreichen Untersuchung vor zwei Jahren stellte das Forschungsinstitut für Agrochemie fest, daß die Region unter extremer Bodenversauerung leidet. Statistisches Material über die gesundheitlichen Belastungen der Bevölkerung in Baia Mare hat der Arzt Lajos Györffy zusammengestellt. Danach kommt es in der Stadt überdurchschnittlich viel zu Blut-, Stoffwechsel-, Lungen-, Zahn- und HNO-Krankheiten; Krebs tritt 300mal häufiger auf als im rumänischen Durchschnitt.

Um die Bewohnern zu beruhigen, stattete Ex-Ministerpräsident Petre Roman dem Phoenix-Werk im Februar 1990 einen Besuch ab und versprach Verbesserungen für die Umwelt. Geändert hat sich seitdem nichts. Lediglich ein neuer 350 Meter hoher Schornstein wurde gebaut, der den Dreck weiträumiger verteilt. Im September letzten Jahres organisierte die regionale MER-Gruppe Demonstrationen in der Stadt und schickte gleichzeitig eine Delegation ins Bukarester Industrieministerium. Als die Demonstranten vor das Phoenix-Werk zogen, wurden sie von den Arbeitern verjagt. In Bukarest wurde die Anglegenheit nach der Regierungsumbildung vom Oktober 1991 vergessen.

„Retechnologisierung“: Alles scheitert am Geld

Die Phoenix-Verwaltung schickt am nächsten Tag tatsächlich einen Wagen, doch im Werk ist der Ökonomische Direktor dann unauffindbar. Überraschenderweise hat aber Generaldirektor Vasile Manole Zeit zu einem Gespräch. Er gibt sich keine Mühe, die „schweren Probleme, die Phoenix verursacht“, zu beschönigen, weist aber darauf hin, daß die Aufrechterhaltung der Produktion für die rumänische Wirtschaft überlebensnotwendig sei. Auf die Frage, warum man bis jetzt nichts unternommen habe, um die Ursachen der Umweltkatastrophe zu beseitigen, antwortet Manole das, was hier alle sagen: „Es scheitert nicht an unserem Willen, es scheitert am Geld.“

Bei Phoenix habe man seit längerem Pläne, wie die Situation in den Griff zu bekommen sei. „Retechnologisierung“ heißt das Zauberwort, mit dem sich alles zum Guten wandeln soll. Das diesbezügliche Programm ist ehrgeizig. Das Werk will in Zukunft nicht einfach nur umweltfreundlich produzieren. Im Rahmen einer grundsätzlichen Modernisierung soll der größte Teil der jetzt entstehenden Schadstoffe in den Produktionsprozeß eingebunden werden. Gleichzeitig möchte man die Schwefelsäure- und Kupferproduktion um je 40 Prozent erhöhen und den Energieverbrauch um 20 bis 30 Prozent reduzieren, das Ganze mit 30 Prozent weniger Arbeitskräften. Verwirklichen will Phoenix das Programm mit Hilfe der deutschen Firmen Mannesmann und Norddeutsche Affinerie — letztere gelangte in Hamburg durch einen Arsen-Skandal zu trauriger Berühmtheit. Ein Phoenix-Vertreter reiste, laut eigener Aussage, im Dezember 1991 zu Gesprächen mit der Norddeutschen Affinerie nach Hamburg. Doch weder dort noch bei Mannesmann kennt man die Firma aus Baia Mare, wie der taz auf Anfrage erklärt wurde.

Hoffen auf IWF-Kredite

Wo die veranschlagten 63,3 Millionen Retechnologisierungskosten herkommen sollen, weiß bis jetzt niemand. Potentielle Investoren hätten, so Manole, abgewunken und signalisiert, daß sie sich für Phoenix erst interessieren würden, wenn dort die Produktions- und Umweltprobleme gelöst seien. So hofft man in Baia Mare auf IWF- und Weltbank- Kredite.

Was den Einwohnern von Baia Mare bleibt, ist ein Abglanz von Hoffnung. Manchmal scheint er unter der Ohnmacht hervor. „Wir versuchen, mehr mit den Umweltschützern in Kontakt zu kommen“, sagt Alexandru Csiky niedergeschlagen. „vielleicht ändert sich so etwas.“ Die Unzufriedenheit wird größer. Aber das Leben in der Stadt geht weiter. Nach ein paar Tagen entdeckt man, daß auch hier Kinder spielen, Menschen lachen und sich zu Hause fühlen. Und man fragt sich, wo der Punkt ist, an dem man aufhört, sich an etwas zu gewöhnen.

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