PREDIGTKRITIK
: Palmen statt Predigt

■ Palmsonntag in der Hedwigskathedrale in Mitte

Die Katholiken können es nicht lassen und denken lieber schon an das bevorstehende, große Fest. Ein jeder trage seinen Zweig vor sich her — vor der Hedwigskathedrale in Mitte. Die Stimmung vor der Kirche erreicht in der Frühlingssonne fast den Charakter eines ausgelassenen Dorffestes: Fein herausgeputzte Kinder spielen auf der Kirchentreppe, die Erwachsenen halten noch ein kurzes Pläuschchen, lässig an die schon geöffnete Tür des neuen Westwagens gelehnt. Die Omas tappern langsam den Linden entgegen, und trotz der vielen Palmsonnntage, die sie in ihrem Leben schon begehen durften, haben sie noch immer nicht die ganz elegante Methode gefunden, wie sie Handtasche, Gesangsbuch und eben die kleinen Palmzweige, hübsch in ein Papierchen gewickelt, mit nur zwei Händen davontragen können.

Obwohl gerade erst ein ganzer Schwung gläubiger Menschen die Kathedrale verlassen hat, wird drinnen schon zur Ruhe für die nächste Messe gemahnt — es herrscht Hochbetrieb in der Kirche. Die Ansagen über das Gemeindeleben der kommenden Tage brauchen heute beträchtliche Zeit, schließlich erfahren wir noch, für welchen guten Zweck die hoffentlich reichlichen Kollekten der nächsten Woche verwendet werden sollen: Für das Heilige Land. Nur sagt niemand, was dort damit angestellt werden soll. Handelt es sich dabei etwa um ein Entwicklungsland? — Schon beginnt die Orgel zu schmettern. Ein Blick über die Schar der Kirchenbesucher wiegt mich in stiller Übereinkunft mit ihnen, daß sie zu der Sorte Mensch gehören, die nicht schon an diesem Sonntag die ganz große und zeitraubende Glaubensfeier veranstalten wollen. Vielleicht sind es die Vergeßlichen, die Langschläfer oder gar die Zweifler? — Jedenfalls: Wenn sie gedacht haben, sie kämen so gut wie ungeschoren davon, dann haben sie sich am falschen Ort eingefunden, wie sie mehr und mehr erkennen müssen. Am Anfang geht es noch zügig zur Sache: Lesung, Lied, Lesung, Lied. Doch dann setzt der Pfarrer zum Super-Evangelium an: »Als die Stunde gekommen war...«. In einem ergreifenden Vortrag zitiert er das Evangelium nach Lukas, das sich zu einer detailliebenden Schilderung der letzten Woche Jesu auf Erden ausweitet: Jesus mit den Jüngern am Tisch beim letzten Abendmahl, Jesus und der Verräter, Jesus geht zum Ölberg — »Nimm diesen Kelch von mir« — Jesus bei Pontius Pilatus und Herodes, Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung.

»Wir stehen jetzt auf« — das hat Lukas nicht geschrieben, das fügt der Pfarrer ein, denn es geht auf den entscheidenden Augenblick zu: »... und Jesus hauchte seinen Geist aus.« Der Pfarrer fällt auf die Knie, der Rest der Gemeinde hinterher — eine Minute Stille. Und eine Minute kann lang sein: Einige suchen schon einen Festpunkt unter der Kirchendecke, andere halten ihr Gesicht vergraben. Endlich erhebt sich der Pfarrer wieder, um die Geschichte zu ihrem Schluß zu bringen: Das Evangelium mündet im apostolischen Glaubensbekenntnis, die Orgel setzt ein — das wäre erstmal geschafft. Soviel wie Jesus in dieser einen Woche, erleben andere ihr ganzes Leben nicht; noch dazu war Jesus gleichzeitig sein eigener Kommentator: Von der großen Aufgabe bis zur ureigenen Angst finden sich in diesem Evangelium dutzende Stellen, die nachzuhaken lohnten. Jesus als Sozialrevolutionär — fast nirgends in der Bibel wird diese Funktion mit ihren Konsequenzen so deutlich wie hier, wie übrigens andererseits auch die Arroganz der Macht. Zeit also für ein paar kritische Anmerkungen über die Geschichte in den 2.000 Jahren, die danach folgten, aber es bleibt keine Zeit. Nach einer kurzen Erholungspause mit Orgelbegleitung schreitet der Pfarrer gleich zum eucharistischen Teil der Messe: Die Predigt fällt heute aus, was aus der Sicht des Pfarrers durchaus gerechtfertigt erscheinen kann: Hat er nicht mit der Gemeinde zusammen den Glauben gefestigt? — Da treten alle Fragen über das Wie in den Hintergrund. So haben wir die Worte vernommen und den Sinn nicht hinterfragt, und wem das nicht reicht, der möge sich an die Worte der Lesung erinnern: »Wer an Gott glaubt, der wird nicht in Schande enden«. Na also. Lutz Ehrlich