EUROFACETTE
: Die Gefahr heißt „Europäische Synthese“

■ Wohlstands-Rechtsradikalismus und Extremismus der Wohlstandsverlierer: eine gefährliche Symbiose

Was tun gegen die Welle von rechts? Die Frage wurde, von Skandinavien über Deutschland, Frankreich, Österreich bis nach Italien praktisch schon beantwortet, ehe sie überhaupt ernsthaft gestellt wurde: Unterschiedslos haben sozialdemokratische wie konservative Regierungen europaweit seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre das Asyl- und Ausländerrecht verschärft, mit Ausländerfeindlichkeit geworben, das Recht des Stärkeren reklamiert. Aus Angst vor Machtverlust haben Demokraten antidemokratische Politik gesellschaftsfähig gemacht. Die Erfolge fahren trotzdem nicht sie ein, sondern die Rechtsradikalen.

Notwendig wäre, anstelle der Hysterie der Etablierten, demokratische Gelassenheit. Es geht darum, Grundrechte wie das auf Freizügigkeit und Asyl auch dann nicht zu opfern, wenn ein Verlust politischer Macht droht. Die übernervöse Reaktion auf die Erfolge der Rechtsradikalen kommt zu einem großen Teil nicht aus demokratischem Bewußtsein, sondern einem Mangel daran.

Wer fordert zum Beispiel, die Restbestände völkischen Denkens aus dem bundesdeutschen Recht zu streichen? Wie überzeugend ist der „Konsens der Demokraten“ gegen Rechts, wenn sie zum Beispiel noch immer die Praxis des „Vertriebenenrechts“ zulassen, wonach jüdische Deutsche aus Osteuropa als „undeutsch“ klassifiziert werden, weil sie jüdischen Glaubens sind?

Die Rechtsradikalen sind als Machtfaktor von den Demokraten so ernst genommen worden, daß sie dadurch erst politisch mächtig werden konnten. Nach den eigentlichen Ursachen des Erfolgs der Rechtsradikalen aber wird lieber nicht ernsthaft gefragt. Wir wissen längst, daß nicht Konflikte mit Ausländern an seinem Ursprung stehen — sonst funktionierte das Feindbild „Ausländer“ ja nicht gerade dort am besten, wo es besonders wenig Erfahrungen mit Ausländern gibt, in den neuen Bundesländern. Wir wissen auch, daß in Westeuropa nicht die Arbeitslosigkeit Hauptursache für „Rechts“ sein kann: gerade in den reichsten Regionen Europas, von Südschweden über Baden-Württemberg und Elsaß bis Norditalien stehen die Hochburgen der Rechtsradikalen.

Der Rechtsradikalismus ist kein soziales Randphänomen; er kommt mitten aus der Normalität der Industriegesellschaft. Identität in der „Volksgemeinschaft“ sucht vor allem, wer angesichts des Modernisierungsprozesses identitätslos zu werden fürchtet. Ob es um das Ende der kirchlichen Bindungen im niederbayerischen Dorf oder um den Verlust kommunistischer Arbeitersolidarität in den Vorstädten von Marseille geht: wo immer die alten Zusammenhänge sich auflösen und weder befriedigende neue soziale Strukturen entstehen noch Selbstbestimmung gelebt werden kann, wächst das Bedürfnis nach Autorität und „völkischer“ Gemeinschaft.

In Westeuropa ist der Rechtsradikalismus nicht ein Problem fehlenden Wohlstandes, sondern eine Frage der Grundlagen der Wohlstandsgesellschaft als solcher. Gerade die Wahlen in Baden-Württemberg, Frankreich, Oberitalien haben gezeigt, daß es in höchstem Maß um eine Aggressivität der Satten geht. Die Aussicht, einen Teil ihres Wohlstandes mit anderen teilen zu müssen (mit Bürgern der neuen Bundesländer oder mit Flüchtlingen aus der Dritten Welt), macht immer mehr „wohlanständige“ Bürger zu Sympathisanten menschenfeindlicher Ideologien.

Der Boden des freiheitlichen Minimalkonsenses in der „freien Welt“ ist dünn. Das Potential derer, die für Menschenrechte und Demokratie genau so lange eintreten, wie die Wachstumsraten stimmen, ist weit größer, als es die fünf bis fünfzehn Prozent rechtsradikaler Wählerstimmen allenthalben zeigen. Das Wahlverhalten dieser Bürger aus allen sozialen Schichten wird gerne als lediglich „unpolitischer Protest“ bezeichnet. Doch der Protest könnte politischer gar nicht sein: es ist die reaktionäre Rebellion derjenigen, die an der Polititk resigniert haben und deshalb „unpolitisch“ zur kollektiven Aggression bereit sind.

Es ist eine politische Entscheidung, ob Wohnsilos und Straßen entstehen, deren Anonymität soziale Kontakte erschwert und rechtsradikale Gewalt produziert. Es ist eine Frage der Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft, ob sich bei der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes industrielle und staatliche Großbürokratien durchsetzen, durch die sich immer mehr Menschen kulturell enteignet und fremdbestimmt fühlen müssen. Zur Zielgruppe der Rechtsradikalen gehört nämlich zum Beispiel auch der Landwirt, der nicht begreifen kann, warum sein berufliches Überleben nicht von der Qualität seiner Milch, sondern von der nächsten EG-Milchquotenregelung abhängt. Hier können die Parolen gegen Demokratie und gegen ein Europa der Asylanten oder gegen die Billigimporte aus dem Süden wirken.

Nur ein Europa, das regional wie transnational demokratisch funktioniert und ökonomische Konzentration entmachtet, kann die gefährlich drohende „europäische Synthese“ verhindern — die Verbindung von westeuropäischem Wohlstands-Rechtsradikalismus mit dem Rassismus der Wohlstandsverlierer aus dem Osten. Walter Oswalt

Zur Person des Autors siehe unter Tour d'Europe Seite19