Geschlossene Gesellschaft

Die Vertriebenen von vorgestern und die Vertreiber von gestern — vereint unter einem Dach?  ■ Von Henryk M. Broder

Auf Einladung des Berliner Senats und der Akademie der Künste waren in der ersten April- Woche etwa 50 alte jüdische Künstler zu Besuch in Berlin, die letzten noch lebenden Angehörigen des „Jüdischen Kulturbundes“, der 1933 gegründet und 1941 von den Nazis liquidiert wurde. In den acht Jahren seines Bestehens gab der Kulturbund jüdischen Künstlern, Schauspielern, Musikern, Sängern, Regisseuren, die aus der deutschen Kultur hinausgesäubert worden waren, Gelegenheit, in ihren Berufen weiter zu arbeiten, materiell und geistig zu überleben. Dem jüdischen Publikum bot der Kulturbund praktisch die einzige Möglichkeit, am kulturellen Leben teilzunehmen, auch wenn es in einem Ghetto stattfand. Die weitgehend unbekannte und reichlich bizarre Geschichte des Jüdischen Kulturbundes wird derzeit in einer Ausstellung (Geschlossene Gesellschaft) in der Westberliner Akademie der Künste dokumentiert.

Diese Akademie bemüht sich seit langem um die Lebenszeugnisse vertriebener Künstler. Der erste Direktor des Archivs, Walter Huder, hat eine große Sammlung von Nachlässen angelegt, die nun von seinem Nachfolger Wolfgang Trautwein fortgeführt wird. Im Jahre 1987 wurde der Akademie der Nachlaß von Fritz Wisten übergeben. Der Schauspieler und Regisseur war beim Kulturbund von Anfang an dabei und von 1938 bis 1941 dessen Leiter. Er hatte dank seiner „arischen“ Ehefrau in Berlin überlebt und wurde nach dem Krieg Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm und der Volksbühne in Ostberlin. Er starb im Dezember 1982. Die Ostberliner Akademie der Künste hatte an den von ihm hinterlassenen Materialien kein Interesse.

Im Jahre 1988 traten Eike Geisel und ich mit einem Vorschlag an die Akademie der Künste (West) heran. Wir hatten gerade einen Dokumentarfilm über den Jüdischen Kulturbund gedreht und wollten unsere Unterlagen an einem Ort aufbewahrt wissen, an dem sie anderen, die sich mit dem Thema beschäftigten, von Nutzen sein konnten. Außerdem wußten wir, wo weiteres Material lag, das wir für unseren Film nicht verwendet hatten und das dringend gerettet werden sollte. So kam das „Archiv des Jüdischen Kulturbundes“ zustande: die umfangreiche Sammlung von Fritz Wisten und etwa 60 Nachlässe, die wir im Auftrag der Akademie nach Berlin holten, aus Tel Aviv, Zürich, London, Paris, New York, Montevideo, Los Angeles, Bogota, Amsterdam und Ramat Gan. Es war nicht immer einfach, die betagten Überlebenden (beziehungsweise deren Kinder) davon zu überzeugen, die Materialien, die sie mit sich in die Emigration gerettet hatten, herzugeben. Diese Dokumente, so argumentierten wir, müßten der deutschen Öffentlichkeit zugänglich sein, dafür gäbe es keinen besseren Ort als Berlin, und in Berlin keine geeignetere Institution als die Akademie der Künste. Wir waren rund vier Jahre unterwegs, ein Jahr davon im Auftrag und auf Kosten der Akademie, wo Archivdirektor Trautwein alle Hebel in Bewegung setzte, um das Projekt realisieren zu können.

Nun kann die Geschichte des Jüdischen Kulturbundes, des letzten Kapitels der danebengegangenen deutsch-jüdischen Symbiose, fast vollständig rekonstruiert werden, von den Anfängen im Jahre 1933 in Berlin, als eine „kulturelle Autonomie“ für die Juden möglich schien, bis zum grausamen Ende in den Konzentrationslagern, wo die deportierten jüdischen Künstler bis zum letzten Moment weiter „Kultur“ machten, in der Lagerbühne Westerbork ebenso wie im Lagerorchester in Auschwitz.

Die Geschichte vom jüdischen Kulturbund wäre damit definitiv zu Ende, wir könnten uns zufrieden zurücklehnen und über den Sinn von Kunst und Kultur unter den Bedingungen eines totalitären Systems reflektieren. Wir würden es tun, wenn da nicht ein kleiner Skandal wäre, der langsam Gestalt annimmt. Man könnte ihn auf den Begriff „Wozu Juden gut sind“ bringen, „Walter Jens und die Austreibung des Geistes“ wäre ebenfalls eine schöne Überschrift.

Der Präsident der Akademie der Künste hat zur Eröffnung der Ausstellung über den Jüdischen Kulturbund eine Rede gehalten, in der er, wie es so seit langem seine Art ist, die Vertreibung des jüdischen Geistes aus Deutschland und die daraus resultierende Verarmung der deutschen Kultur beklagte. Walter Jens hat auch die Angehörigen des Kulturbundes mit bewegten Worten in Berlin begrüßt und ihnen gesagt, wie schrecklich er es findet, daß sie aus Deutschland vertrieben wurden. Es war keine höfliche Ansprache im Rahmen einer Pflichtübung, man merkte es Jens an, daß ihn die Begegnung mit den alten Künstlern innerlich aufwühlte. Seine Zuhörer haben sich über diese späte Wiedergutmachung der geistigen Art sehr gefreut. Und wir haben ihre Freude nicht trüben wollen.

Trotzdem kann es nicht angehen, daß die Eliminierung der Juden aus Deutschland, ihre Ausgrenzung und Vertreibung, beklagt und zugleich alles unternommen wird, um jene zu rehabilitieren, die nach dem Ende des Dritten Reiches das Geschäft der Ausgrenzung und Vertreibung übernommen haben. Es kann doch nicht angehen, sich über die Barbarei des NS-Staates und ihre bis heute spürbaren Folgen zu entsetzen und die Barbarei des SED-Staates zu bagatellisieren und seine Funktionäre entschulden zu wollen. Gewiß, mit Vergleichen dieser Art muß man vorsichtig sein, verglichen [aber jetzt kommt er doch, der „vorsichtige“ vergleich, d. s-in] mit den Juden im Dritten Reich sind die Dissidenten in der DDR noch ziemlich anständig behandelt worden. Aber das Prinzip, auf das es hier ankommt, war dasselbe. Da gab es welche, die mit dem Staat gemeinsame Sache machten, die dafür belohnt wurden, und auf der anderen Seite gab es diejenigen, die sich nicht anpassen wollten oder konnten und dafür gejagt und verjagt wurden.

Diejenigen, die sich heute gegen „unzulässige Vergleiche“ zwischen dem NS- und dem SED-Regime verwahren, sollten in ihrer differenzierten Attitüde einen Moment innehalten und sich bewußt machen, daß man einen Menschen nicht gleich aufhängen muß, um ihm lebenslänglich das Genick zu brechen. Es gibt subtilere Formen der „Sonderbehandlung“, die ihre Spuren hinterlassen. Und was das schon zeremonielle Beharren auf der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der NS- Verbrechen angeht: den Opfern totalitärer Gewalt ist es egal, innerhalb welcher Parameter sie verfolgt wurden. Der beliebte Verweis auf die „Singularität“ dient in diesem Zusammenhang nicht dazu, den Verbrechern entsprechend entgegenzutreten (wozu man beispielsweise im Falle Just die Gelegenheit gehabt hätte), sondern dazu, andere Verbrechen zu relativieren, zu verniedlichen. Wo Auschwitz als Maßstab genommen wird, kann Empörung über andere Untaten leicht hergeholt erscheinen.

Wo man mit Vergleichen vorsichtig sein muß, da wird man wenigstens auf gewisse Gleichzeitigkeiten hinweisen dürfen, die einem nachträglich wie ein Alptraum vorkommen: Zur selben Zeit, da Walter Jens der Ostberliner Akademie beitrat, 1984, um daselbst als „Brückenbauer“ zu wirken, saßen kritische DDR-Bürger wegen „Verbrechen“ ein, die in einem Rechtsstaat nicht einmal gebührenpflichtige Verwarnungen zur Folge gehabt hätten. Diesen Menschen, nicht uns, ist der Rhetoriker der Nation eine Erklärung schuldig, warum er damals mit den staatstragenden Kräften der DDR paktierte und warum er heute deren Rehabilitation betreibt.

Und wo sich Walter Jens dermaßen vehement in den Dienst der nationalen Versöhnung stellt, da wollen auch kleinere Geister mit ihrem Beitrag zum großen Ganzen nicht fehlen. Sibylle Wirsing, deren Begräbnisrezensionen (Der Tote war im Sarg anwesend) und Revuekritiken (Die kollektive Diva... auf ihren vierundsechzig Götterbeinen) zum Besten gehören, was seit Karl May an literarischer Trivia produziert wurde, baggert sich im 'Tagesspiegel‘ von gestern dicht an jenen Abgrund heran, den ein anderer großer Feuilletonist „das Ende der Schonzeit“ genannt hat. Die „en bloc“-Wahl sei keine gewesen, meint sie oder behauptet es jedenfalls, vielmehr habe es sich bei der Vereinigung der beiden Akademien um ein „wechselseitiges Ja-Wort“ gehandelt, mit dem sich die „Mitgliedergemeinschaften beider Häuser ihre Würdigkeit bestätigen“. Man könnte meinen, die Ost- Akademie habe die West-Akademie für würdig befunden, mit ihr den Bund fürs Leben zu schließen. So wird mit Hilfe einer rabulistischen Terminologie aus der Fusion zweier „Gemeinschaften“ das Brautpaar des Jahres, wobei nur noch offen bleibt, ob der Horror der Vereinigung mit der Hochzeitsnacht endet oder erst richtig losgeht. Und Frau Wirsing, die zwischen ihren beiden Rollen als Brautjungfer und Berichterstatterin wechselt, ist in jedem Falle mit von der Partie.

Was den Kulturbund angeht, ist eine makabre, beinah obszöne Situation entstanden: Wir müssen damit rechnen, daß die Vertriebenen von vorgestern und die Helfershelfer der Vertreiber von gestern unter einem Dach vereinigt werden. Während im Basement des Hauses, im Akademie- Archiv, die Materialien des Jüdischen Kulturbundes aufbewahrt und sorgsam gepflegt werden, werden sich in den Etagen darüber die Erben der Reichsschrifttums- und Reichskulturkammer einrichten, die Profiteure und Kollaborateure eines Systems, das sich vom Nationalsozialismus strategisch dadurch unterschied, daß es, statt auf kollektive Vernichtung, auf individuelle Ausschaltung setzte.

Angesichts dieser Kontinuität der deutschen Geschichte war es vielleicht doch keine gute Idee, die vertriebenen jüdischen Künstler und ihre Nachlässe nach Berlin zurückzuholen.