: In Moskau steckt der Teufel im Detail
Volksdeputiertenkongreß gibt ein wenig nach/ Jede Klausel der Kompromißerklärung muß einzeln abgestimmt werden/ Abstimmungsmaschine versagte/ Viele blicken einfach nicht mehr durch ■ Aus Moskau K.-H. Donath
Brav kommt das russische Fernsehen seiner Informationspflicht nach und berichtet ausführlich über die Sitzungen des sechsten Volksdeputiertenkongresses. Doch auch den in Astrologie erfahrenen russischen Journalisten fällt es zunehmend schwerer, die Kapriolen der Abgeordneten des höchsten gesetzgebenden Organs Rußlands nachzuvollziehen. Die Reportage in den Spätnachrichten aus dem Kreml-Palast schmückte ein grünes Spruchband: „Keiner begreift, was hier vor sich geht.“ Kommentar und Prophylaxe zugleich. Denn es gilt, sich auch gegen Angriffe von Abgeordneten zu feien, die sich von der Presse mißverstanden fühlen.
Das Chaos wurde gestern noch komplettiert. Dienstag abend erreichte die Regierung, nachdem sie Montag ihren Rücktritt angekündigt hatte, einen Teilsieg. Die Mehrheit der Volksvertreter hatte ein Einsehen und stimmte für eine Erklärung, die sich zur Fortsetzung des Reformkurses bekannte. Die Regierung hatte den Entwurf vorbereitet, um mit der Legislative einen Ausgleich zu finden. Am Sonnabend hatte das Parlament den Regierungskurs heftig kritisiert und Forderungen aufgestellt, die ein Ende der Reformen zur Folge hätten. Außerdem sollte Präsident Jelzin ab Juli seiner Sondervollmachten entkleidet werden.
Schon triumphierte Jelzins rechte Hand, Staatssekretär Gennadij Burbules, die Entscheidung mache die Frage des Regierungsrücktritts gegenstandslos. Doch am Morgen dann ein böses Erwachen: Der technische Dienst des Parlaments teilte mit, die raffinierte Stimmenzählanlage hätte nicht richtig funktioniert. Der Wille einiger Dutzend Abgeordneter sei wegen eines Kabeldefekts nicht registriert worden.
Der Rohentwurf bekräftigte das grundsätzliche Bekenntnis auch des Parlaments zur Wirtschaftsreform. Darüber hinaus bestätigte er die Sondervollmachten des Präsidenten bis zum 1.Dezember. So hatte es Jelzin letzte Woche noch gefordert. Die Formulierungen zur Wirtschaftspolitik waren so gehalten, daß sie der Regierung wieder freie Bahn einräumten. Die einzelnen finanziellen Sonderinteressen, die in der ersten Resolution noch das Budget gesprengt hätten, bräuchte die Regierung danach nur noch als eine lockere Empfehlung zu behandeln.
Allerdings sprachen sich die Abgeordneten am Dienstag nur „im Prinzip“ für die Annahme der revidierten Fassung aus. Dahinter verbirgt sich ein teuflischer Mechanismus. Jede einzelne Klausel muß gesondert abgestimmt werden. Das führt häufig zur völligen Verkehrung des eigentlichen Anliegens und produziert Resolutionen, die in sich völlig widersprüchlich sind. Gänzlich unbegreiflich ist das Recht, Resolutionen auch nach ihrer Annahme im Plenum noch einmal zu überarbeiten. Trotzdem scheint die Gefahr für die Regierung gebannt zu sein. Enttäuscht meinte der konservative Oppositionsführer Wladimir Isakow: Die Koalition aus Kommunisten und Nationalisten hätte sich als unfähig erwiesen, die „Schocktherapie“ zurechtzustutzen: „Die Opposition ist unfähig gewesen, radikale Veränderungen des Regierungskurses vorzunehmen.“ Er beklagte die schwankende Haltung vieler Abgeordneter. Entweder seien sie konfliktscheu, wünschten einen Kompromiß oder verstünden einfach nicht, worum es ginge. Gestern am späten Nachmittag entschied der Kongreß, sich nicht wieder mit der Deklaration zu befassen. Statt dessen soll heute ein erneuter Entwurf des stellvertretenden Vorsitzenden des Kongresses, Schumeiko, debattiert werden. Jelzin selbst hat sich seit Sonnabend nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Es scheint eine Taktik zu sein, um die verunsicherten Abgeordneten zur Raison zu bringen.
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