Ursprung der Oper

Bordesholmer Marienklage  ■ Von Arnd Wesemann

Die meiste Kirchenmusik, Mann, macht mich richtig krank, Mann, ich schrei' und fühl' mich abscheulich, deprimiert, verfault und voller Angst, so lausig ist sie, Mann, so spießig und furchtbar, von alten Damen geschrieben und von Schwachköpfen gesungen. Aber diese Kirchenmusik, Mann, die ich gefunden habe, ist der weiße Vogel der Wirklichkeit, Mann, geschrieben von alten Typen im Mittelalter, Mann, die in wundersame Harmonien eingesperrt lebten, Mann, bei denen sich mir die Haare sträuben...

So sagt's Fan Man, der Hippie in William Kotzwinkles Roman, als er über die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Kirchenmusik schwadroniert, über das, was in Europa später „Zupfgeigenhansel“ heißen wird. In den 90er Jahren ist die bekiffte Mönchshaltung in gregorianischer Sufi-Ekstase freilich selten geworden, der Versuch historisch werkgetreuer Rekonstruktion kommt nun etwas häufiger vor.

1476, gute fünfzig Jahre vor der ersten deutschen Bibel, hat der spätere Probst Johannes Reborch die Bordesholmer Marienklage im gleichnamigen Filialkloster zwischen Neumünster und Kiel geschrieben und auch uraufgeführt. Die spätmittelalterliche Klage verschwand sodann in den Archiven und wird nun erstmals — da vollständig und einschließlich Regieanweisungen erhalten — wiederaufgeführt. Das Westdeutsche Rundfunk hat die Senderechte bezahlt. Eine CD wird produziert — genug Geld also war vorhanden, um mit wissenschaftlicher Akribie ein Theater zu rekonstruieren, von dessen Eigenarten man so gut wie nichts mehr weiß (eine historisch-kritische Edition folgt 1993). Die Aufführungen selbst finden, auch auf Grund der Nähe des Spiels zur Karfreitags-Liturgie, im sakralen Raum statt: in St. Pantaleon zu Köln und im Xantener Dom.

Die „Oper“ unter den mittelalterlichen Dramen ist kein Passionsspiel, wie man es aus Oberammergau kennt. Die Bordesholmer Marienklage ist durchdrungen von frühester Renaissance. Ihr geht es nicht länger um die mühselige Schilderung der Passionsereignisse Christi, sondern sie revolutioniert ihr Genre mit persönlicher Trauer und innerem Schmerz. Jesus tritt ab in den Hintergrund. Alles konzentriert sich auf den Leidensschmerz Mariens, der in der Bibel nicht vorkommt. Die Bordesholmer Klage greift auf die bekanntesten Melodien ihrer Zeit zurück (u.a. Walther von der Vogelweides „Palästinalied“) — und je weiter die Klage fortschreitet, desto intensiver, erschütternder und menschlicher soll sich vor dem Zuschauer die Gestalt der Schmerzensmutter abzeichnen.

St. Pantaleon ist eine romanische Kirche, nüchtern, hell, und mitten hinein ist ein gotischer Giebelaltar aus Stein bis zur Decke gebaut: eine ans Barock angelehnte Kulisse, die wie die Bordesholmer Marienklage dem Mittelalter zu entfliehen versucht. Das Abenteuer, in das sich das auf mittelalterliche Musik spezialisierte Kölner Ensemble Sequentia und Regisseur Franz-Joseph Heumannskämper einließen, ist eine Gratwanderung zwischen Pathos und Werktreue. Wenn zu Beginn Jesus, Maria und Magdalena, Johannes und seine Mutter, zwei Knappen und eine Horde Mönche im allerfeinsten italienischen Renaissancekostüm zum Portal hinprozessieren, ist man nicht ungeneigt, ein folkloristisches Laienensemble in würdiger Historienmanier zu erkennen. Ungezählte Germanen, Römer und Hottentotten gibt es in Köln, die tagsüber normale Menschen sind, abends aber Burgfräuleins und Sanskulotten mit jenem historisierenden Eifer spielen, als müssten sie durch ihre Maske tief in die Mythologie der Vorbilder hinabsteigen. Nirgendwo auf der Welt gibt es soviel exotische Stammeskulturen klüngelnder Jecken wie in Köln.

Aber mitnichten gehört das Ensemble Sequentia dazu. Mag ihre Faszination am Mittelalter seit 1977 auf ähnlichen Beweggründen basiert haben — das Ensemble besteht fast durchweg aus Amerikanern — entwickelten sie fortan aus dem Historisierenden doch echte Geschichtsforschung mit dem Akzent auf mittelalterliche Musik. Mit Erfolg: Berühmt wurden sie 1982 mit der Rekonstruktion des „Ordo Virtutum“ der Hildegard von Bingen.

Nur widerwillig, unter Ohnmachtsanfällen, wird sich Maria in das Schicksal ihres zu kreuzigenden Sohnes fügen — gewöhnliche Passionsspiele nehmen ihre Heiligwerdung gleich vorweg. Die Bordesholmer Marienklage ist gründlich: Maria seufzt, schreit, singt, zweifelt, rappelt sich wieder auf, sie fühlt die Schwertspitze an ihrem Herzen, möchte sterben usw. Sie ist eine Figur, die selbst ergriffen zwischen dem Betrachter und dem hier ganz zurückgenommenen Tod Jesu das Mitleid (compassio) vermitteln soll.

Da die Passionshandlung bekannt ist, konzentriert sich die „Oper“ — wie wesentlich spätere erst — auf die Eruptionen der Seele. Sie ist reinstes Drama und erinnert über weite Strekken an das Urpathos aus Furcht und Mitleid. Die hier angewandte 1:1-Übersetzung von auf der Bühne ausgedrücktem Schmerz auf eine erhoffte Ergriffenheit des Publikums ist eine der ältesten, auch naivsten Mittel der Tragödie. Das kunstvolle, musikalisch komplex komponierte Klagen aber reißt nicht ab. Eine fast barocke Statik durchzieht das Stück. Alle Figuren gefrieren in Ehrfurchtsstarre, warten mit ungeheurer Disziplin auf ihren Part, gestalten ihn mit rein ikonologischer Präzision. Jeder Fingerzeig, jeder ausgebreitete Arm scheint Gemälden dieser Zeit abgeschaut - jeder Wink ist Deutungselement, nie Sinnesreflex. Immer wieder kniet Johannes nieder, läßt sich vom Knappen ein Schwert reichen und zeigt mit deren Spitze auf Mariens Herz. In der Ikonologie der Bildenden Kunst bedeutet es den das Herz durchbohrenden Schmerz Mariens. Inwieweit die Passionsklage tatsächlich mit der Ikonografie der Bildenden Kunst identisch war, weiß man noch heute nicht.

Maria klagt nicht in höfisch-klerikalem Singsang, sondern spricht die Sprache des gemeinen Volkes. Die Poetik ist verblüffend: Die Erde bebt, die Toten leben, Mit Herz und Mund danken wir dir so sehr!. Mehr Zynismus auf den ungerechten Tod ihres Sohnes war von noch keiner Maria im Reich der Päpste zu hören.

Das Kölner — und Karfreitag Xantener — Ereignis zeigt neben der ersten und nach bestem Wissen geführten Rekonstruktion eine ungeheure emotionale Substanz. Gerade das Wechselspiel von großer künstlicher Starre — fast an Wilson gemahnend — und dem Abenteuer des Pathetischen läßt einen eindrucksvollen Blick in die aus Einfachstem gebauten Ursprünge der Oper aus dem Geist der Passion zu.