Vor den Wahlen herrscht Chaos

Am 17.Mai soll in Irakisch-Kurdistan ein Nationalrat gewählt werden, doch außer dem Termin steht noch nichts fest/ Etliche kurdische Feudalherren begründen ihre Herrschaft mit Kalaschnikows  ■ Aus Suleimaniya Hans Engels

„Ein Beispiel für andere Teile Iraks, uns zu folgen“, nennt Dschalal Talabani, Vorsitzender der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die für den 17.Mai angesetzten Wahlen in Irakisch-Kurdistan. Vom „wichtigsten Schritt“ seit der Gründung der „Kurdistan-Front“ im Jahr 1987 spricht der Chef der Demokratischen Volkspartei Kurdistans (KPDP), Sami Abdurrahman. Und auch Massud Barsani, Vorsitzender der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und populärster kurdischer Politiker, preist den Urnengang als „Herausforderung und Chance“ zugleich, um die Probleme zu lösen.

Doch viel mehr, als der nach langem Hin und Her festgesetzte Wahltermin und das gemeinsame Bekenntnis zur „notwendigen Demokratisierung“ steht bisher nicht fest. Erklärte Barsani während seiner Europareise im vergangenen Monat, die Parlamentssitze würden auf Grundlage des britischen Mehrheitswahlrechts verteilt, so bemerkt Talabani daheim, man habe sich unterdessen für das Verhältniswahlrecht und eine Vier-Prozent-Hürde entschieden. Während der örtliche PUK-Sprecher in Suleimanya erklärt, die Verwaltung der Städte werde nach den Wahlen an einen Ausschuß übertragen, spricht Talabani von extra durchzuführenden „Lokalwahlen“.

Vor den Wahlen herrscht Chaos in Irakisch-Kurdistan. Ein interner Bericht einer Hilfsorganisation beschreibt die Lage als „Schwebezustand“. Durch die „Abwesenheit des irakischen Staates“ gebe es ein praktisch „befreites Gebiet, aber noch ohne eine klar definierte neue Organisation der Gesellschaft“. Im Klartext bedeutet das, jeder macht was er will. Lange schien es, als würde die kurdische Führung ihr Versprechen, Wahlen durchzuführen, nicht einhalten können. Zwar bilden sich vielerorts auf lokaler Ebene „Komitees“ oder „Ausschüsse“, in denen diverse Kreise und Vertreter von Berufsgruppen vertreten sind. Auch die allein acht Parteien in der Kurdistan- Front und eine Vielzahl zum Teil konkurrierender Aufbau- oder Sozial-Organisationen dürften als Indiz für Pluralismus im noch vor kurzem von Bagdad diktatorisch regierten Norden gewertet werden. Doch der entscheidende Schritt, die Wahl zu einem Nationalrat und damit einer demokratisch legitimierten Führung, verzögerte sich immer wieder.

Es mangelt in erster Linie an nachhaltiger internationaler politischer Unterstützung und an humanitärer Hilfe. In dem Gebiet leben Hunderttausende von Flüchtlingen. Immer noch existierende alte Feudalstrukturen müssen überwunden werden. Die Führung in Bagdad versucht die Autonomiebestrebungen im Norden mit allen Mitteln zu stören. Zwar sind rund 50 Prozent des kurdischen Gebietes im Nordirak unter kurdischer Kontrolle. Doch Saddams Truppen bekämpfen die Abtrünnigen nach Kräften, kühl kalkulierend immer unterhalb der Schwelle des von den Golf-Alliierten nicht mehr Geduldeten.

Zudem leidet der freie Teil Kurdistans schwer unter der von Bagdad Ende Oktober verhängten Wirtschaftsblockade. Während des gerade zu Ende gehenden Winters — einem der härtesten seit Jahrzehnten mit bis zu 30 Grad minus und vier Metern Schnee — ließ die irakische Führung maximal 20 Prozent der vor der Blockade gelieferten Lebensmittel und Medikamente, Treib- und Brennstoffe in den Norden. Löhne und Renten werden nicht gezahlt. Weil es keine Ersatzteile für das zerstörte Telefonsystem gibt, sind sämtliche Städteverbindungen außer Betrieb. Durch den harten Winter und die Belastung durch hunderte Lkw mit Tausenden Tonnen Hilfsgütern sind viele Straßen zerstört oder kaum befahrbar.

In all dem Chaos steht die kurdische Selbstverwaltung mitunter bis zur Handlungsunfähigkeit zersplittert da. Die acht Parteien in der Kurdistan-Front repräsentieren fünf Millionen Einwohner. Jede Partei ist mit einem Veto-Recht ausgestattet. Etliche feudale Stammesfürsten, deren Macht sich häufig auf die Gewehre ihrer Peshmarga stützt, sitzen weiter fest im Sattel. Eines der anschaulichsten Beispiele für das noch herrschende Milizunwesen bietet der Stammeschef in der Region um Saddams unvollendetes Staudamm-Projekt „Bechma“. Das Projekt sollte das westliche Kurdistan Richtung Türkei vom östlichen Richtung Iran trennen. Bei seiner Fertigstellung wären in der Region alle Gebiete unterhalb 1.400 Meter Höhe unter Waser gesetzt worden. Rund um die gigantische Baustelle waren Hunderte Baumaschinen im Einsatz, die nach dem kurdischen Aufstand in die Hände des örtlichen Großgrundbesitzers und Stammesführers fielen. Der Feudalherr, nicht etwa die irakische Regierung, wie es vor einigen Monaten hieß, verscherbelt das Millionen Dollar teure Gerät seit Monaten an den Iran und füllt seine Privatschatulle. Gleichzeitig herrscht überall Mangel an hochwertigen Maschinen, um Straßen und Dörfer und Städte zu bauen oder von Schutt und Schnee zu befreien. Doch der Chef von Bechma mit seinen 6.000 Peshmerga und einigen Artilleriekanonen gilt als unangreifbar.

Gegenüber ausländischen Vertretern beteuert Talabani immer wieder, die Wahlen würden das Ende der Milizherrschaften bedeuten. Doch warum sich regionale, absolutistische Feudalisten demnächst einem Demokratisierungsprozeß unterstellen sollten, ist eine Frage, auf die die Spitzen der Kurdistan-Front mit besorgter Miene nur eine hilflose Antwort wissen: „Alle haben sich verpflichtet, die Wahl und die Entscheidungen des Parlamentes anzuerkennen.“ Für die einfachen Kurden bedeuten Wahlen Synonym für das Ende der Bagdader Diktaur. Wer letztendlich im Nationalrat sitzt, ist ihnen zumeist egal. Es gibt aber auch noch die Minderheit der bisher von privilegierten Kurden. Sie trauern den alten Zeiten nach. Als Vorabeiter oder Dolmetscher ausländischer Technosöldner ging es ihnen vor dem Aufstand besser als heute.