„Campus-Blues“ an Frankreichs Unis

Die Demokratisierung des französischen Bildungssystems hat nichts an seiner Ungerechtigkeit geändert  ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk

Marie-Christine war endlich eine fertige „Normalienne“: Eine Absolventin der legendenumwobenen „École Normale Supérieure“ (ENS) in der Pariser Rue d'Ulm — gleich vis-à-vis zum Panthéon. Der Weg war lang gewesen. Nach dem „bac“, dem französischen Abitur, hatte sie zwei Jahre lang auf der „prepa“ gepaukt. Tagtäglich sechzehn Stunden Auswendiglernen, kein Wochenende, keine Ferien, die Familie immer im Nacken. Schließlich hatte der Vater es auch geschafft. Hunderte von „Übungs-Dissertationen“ in der seit Generationen verbindlichen Form und jener „brillanten“ Sprache, wie sie nur in bestimmten Pariser Bezirken und den Grandes Écoles gepflegt wird.

Marie-Christine schaffte die prepa und konnte sich dann für die fürchterliche Eingangsprüfung zur ENS anmelden; sie bestand und dachte, der Streß sei jetzt vorüber. Aber alle anderen paukten weiter, exzerpierten ganze Bibliotheken, weil sie wußten, daß bei der „agreg“ nur die Hälfte durchkommen würde. Marie-Christine paukte weiter, drei Jahre lang täglicher Vergleich mit anderen auf der imaginären Rangliste, tagtäglich die kleinen Schaukämpfe der „brillanten“ Kollegen im Internat Rue d'Ulm. Und schließlich die Abschlußprüfung. Schriftlich: fünf Stunden Dissertieren über eine Passage von Molière; mündlich: ein „frei“ gehaltener Vortrag in der Länge einer Schulstunde. Alles möglichst brillant und in der klassischen Form. Marie-Christine schaffte beides, und als, wie es üblich ist, die Liste der „Agregierten“ in 'Le Monde‘ veröffentlicht wurde, rangierte Marie-Christine auf Platz 53. Dann brachte sie sich um.

„Frankreich ist eine Republik. Aber eine durch und durch monarchische...“, sagt Jean Lebrac, Oberingenieur des Grand Louvre und wie die meisten Spitzenbeamten Absolvent einer Grande École, der „Ponts et Chaussées“. In der Tat ist kein anderes Ausbildungssystem so schein- demokratisch wie das französische. An den Universitäten gibt es keine Zulassungsbeschränkungen. Aber nur wem es gelingt, aus diesem namenlosen Heer der Akademiker in die Aristokratie der „Grande Écoliers“ aufzusteigen, der wird — sofern er auf diesem Königswege nicht um den Verstand gebracht wird — seinen Spitzenjob finden. Er wird teilhaben an einer Welt mit eigener Sprache, eigenen Gesten und eigenen Vereinigungen. Ganze Ausbildungszweige dienen nur dazu, den Absprung auf die Kaderschmiede ENA zu finden — oder einen zukunftsträchtigen Lover.

Es ist eine zweigeteilte Welt, von überfüllten Unis und ebenso hehren wie leeren Grandes Écoles. Und seit Jahren ist allen Bildungsexperten und -politikern klar, daß der Ausweg aus diesem extrem selektiven System paradoxerweise in stärkerer Selektion liegt. Zur Zeit ähnele das Grundstudium an den Unis „einem Schlachthaus“, meint der Universitätsreformer Claude Allegre. Siebzig Prozent brechen ihr Studium in den ersten beiden Jahren ab. Eine ungeheure Verschwendung von Zeit, Personal und Hoffnungen. Zumal unter den Abbrechern Studenten aus Nichtakademiker-Familien dominieren, denn sie müssen nebenbei arbeiten. Die Demokratisierung des Bildungssystems hat an seiner Ungerechtigkeit nichts geändert.

In den letzten vier Jahren hat die Studentenzahl um 300.000 zugenommen. Bis zum Ende des Jahrzehnts wird Frankreich zwei Millionen Studenten zählen können. Längst bereuen die Regierungssozialisten ihre Parole „Abitur für 80Prozent eines Jahrgangs“. Es sind zu viele; die regelmäßigen Schülerrevolten sind Ausdruck dafür, daß das Bac keine Garantie für besseres Leben mehr bedeutet. Und die Bruchstellen der Gesellschaft machen nicht mehr vor der Tür des Lycées halt: Die Schüler-Demos im Herbst 1990 forderten mehr Sicherheit in den Gymnasien der Banlieue.

Sämtliche Regierungen seit 1981 versuchten die universitäre Ausbildung aufzuwerten, doch immer scheiterten die Minister an den diversen Korporatismen. Die nach dem ehemaligen Erziehungsminister genannte „Jospin-Reform“ sieht nun vor, die 45 Fachrichtungen im Grundstudium zusammenzufassen, um eine zu frühe Spezialisierung zu vermeiden. Einmal bestandene Prüfungen sollen auch für verwandte Disziplinen Gültigkeit bekommen. Und: jede Universität soll ihre Abschlußdiplome stärker als bisher autonom gestalten dürfen.

Prompt gingen die Studenten auf die Straße. Didier Lapeyronnie, Mitverfasser eines Buchs über den „Campus-Blues“, sieht darin allerdings eher ein Phänomen der Orientierungslosigkeit als eine politische Antwort auf die Misere: „Das ist ein Strohfeuer, ein Aufstand mit seiner Mischung aus Affektivität, moralischer Entrüstung und der Angst, ausgeschlossen zu werden“, sagte er gegenüber dem 'Nouvel Observateur‘. Die Studenten seien sich individuell im klaren darüber, daß ohne Eingangsprüfungen oder Studiengebühren ihre Ausbildung weiter entwertet würde. Aber: „Sie können nicht als Kollektiv die Eliminierung eines Teils der Kommilitonen fordern, sie wissen aber auch, daß die Universität genauso brutal selektiert wie die Écoles. (...) Ihre Situation ist so wackelig, daß die kleinste Veränderung Ängste auslöst und als Aggression empfunden wird.“ Um die Uni-Reform trotz aller Widerstände durchzubringen, hat Francois Mitterrand mit Jack Lang einen Erziehungsminister ernannt, der noch über ein gewisses Ansehen unter den Jugendlichen verfügt. Und er ist kein Produkt der Grandes Écoles.