Halten nur zum Be- und Entladen

TV-Nachhilfe zum Kolumbusjahr: „Verfluchtes Eldorado“, ARD 20.15Uhr  ■ Von Manfred Riepe

Am 12.Oktober 1492 um zwei Uhr in der Früh ruft Rodrigo, Ausguck der „Santa Maria“, das verhängnisvolle „Laand in Siicht“ zum Deck hinunter. Nicht weniger als 70 Millionen Tote binnen 50 Jahren waren die Folge dieser drei Worte. Ungeachtet des barbarischen Blutbades unter den Indianern wird der italienische Gastarbeiter aus Genua, auch unter dem Namen Kolumbus bekannt, bis dato als „Entdecker“ bezeichnet und nicht als Wegbereiter eines historisch beispiellosen Völkermordes. Die katholische Kirche und ihr Papst, die über die Jahrhunderte hinweg etliche Experten in puncto barmherziges Massaker hervorgebracht haben (Inquisition, Kreuzzüge), sehen das anders. Georg Hafner und Joachim Faulstich hatten in ihrem Film Verfluchtes Eldorado das Glück, einen Hardliner- Pfaffen aus Sevilla vor die Kamera zu bekommen: 500 Jahre Christianisierung seien schlicht ein Segen für die Welt. „Wie sähe wohl“, fragt sich der Gläubige mit Entsetzen, „die geopolitische Landkarte heute aus, wenn ein heidnisches Volk Amerika entdeckt hätte?“ Zum Beispiel die Wikinger?

Mit japanischem Geld finanziert, kreuzen indes unbeirrt sieben Millionen Dollar teure Nachbauten der historischen Karavellen im Atlantik, Kurs hart westwärts. Spanien und Latainamerika rüsten disneymäßig zum Kolumbusjahr. Als „Begegnung zweier Welten“ wird schamlos bezeichnet, was faktisch die Auslöschung einer Welt zur Folge hatte.

Das mühsame Aufrappeln der Indios, die sich von Mexico über Guatemala bis hin nach Kulumbien zu Volksbewegungen zusammengeschlossen haben, ist entsprechend ein Schwerpunkt in Hafner und Faulstichs Feature: Als Alternativ-Feiertag schlagen die Indianer nicht den 12., sondern den 11.Oktober vor — den letzten freien Tag vor der Invasion. Bei Demonstrationen tragen die Indianer Verkehrsschilder mit durchgestrichenem Kolumbuskopf: Halten beziehungsweise Landen für den Genuer nur zum Be- und Entladen. Auch die seltsame Sprachregelung „Entdeckung“ wird geändert: „Auto-Descubrimento“ — Selbst- Entdeckung — nennen die Indios die Rückbesinnung auf ihre alte Kultur. Geplant ist eine Gegen„entdeckung“ des europäischen Kontinents.

Schwerpunkt des Features ist die historische Kontinuität der realexistierenden Ausbeutung: „Wir setzen“, sagt Hafner, „das fort, was Kolumbus begonnen hat. Wir benutzen diese Länder als Schrebergärten, die wir nach Lust und Laune ausbeuten.“ Mit „Wir“ sind die westlichen Industrienationen gemeint, denen Lateinamerika nicht zufällig insgesamt 426 Milliarden Dollar schuldet. In der Hoffnung auf ein paar Tourismus-Dollars hat die Dominikanische Republik in ihrer Hauptstadt Teile der ohnehin hungernden Bevölkerung deportiert, um ein monumentales Kolumbusmuseum zu errichten. Die Bedingungen, unter denen dort Arbeiter auf Zuckerplantagen schuften, wurde unlängst von einer amerikanischen Hilfsaktion als „Sklaverei“ bezeichnet. In Venezuela, das die Ölmultis unter sich aufgeteilt haben, fließen täglich (!) 16 Millionen Liter Öl aus geborstenen Pipelines direkt in den Urwald.

Die pathetische Katastrophenstimmung, in die Verfluchtes Eldorado bisweilen abgleitet, ist insofern gerechtfertigt, da das 90-Minuten- Feature zur Hauptsendezeit gegen Karl Dall und H.J. Kulenkampff antreten muß. Geigenmusik der Art „Ich bin betroffen“ verschmelzen mit eingestreuten Bildern aus Herzogs Aguirre; eine stakkatomäßige Faktensprache wird suggestives Lamento. Terminologische Entgleisungen wie „Endlösung der Indiofrage“ bleiben punktuell und stehen für den Eifer des „Gefechts“ gegen die offizielle Geschichtsfälschung. Immerhin war auch bei der ARD zunächst eine Live-Übertragung von den offiziellen 500-Jahr-Feierlichkeiten in Erwägung gezogen worden. Wenn man sich in Erinnerung ruft, daß Teile der TV-Bevölkerung bestimmt so denken wie Wim Thoelke (am 6.3. In Zeil um 10): daß „Elend ein Naturzustand“ ist, dann geht diese kurzweilige und informative Nachhilfestunde bezüglich „Conquista“ in Ordnung.