Vorbuchstabierte Absicht

■ Armand Gattis »Der Liebesgesang der Alphabete von Auschwitz« als szenische Lesung im Künstlerhaus Bethanien

Utopisches Alphabet... Alphabet der Achtzigjährigen... Alphabet der Namenkunde... Unvollständiges Alphabet... Ungeordnetes Alphabet: die Akteure dieses vielstimmigen Liebesgesangs von Auschwitz sind Alphabete. Sie tragen einzeln oder im Dialog ihre Anrufung vor, versammeln sich später, möglichst zu zehnt, um das Unnennbare zu benennen, das Auschwitz darstellt: »man sollte sich weigern, Auschwitz zu verstehen«.

Fünfzehn Kapitel umfaßt der Liebesgesang von Armand Gatti, mit Titeln wie Unterbrechung wegen Selbstmord des Alphabets der Frage, Die Lösung der Freunde Hiobs oder Adam — was? Die Alphabete stehen jeweils für eine oder mehrere Personen, für deren Bücher, Leben oder Tod: so das Alphabet der Frage für Primo Levi, das Alphabet Prinzip Hoffnung für Ernst Bloch, das des heiliggesprochenen Vikars für Karol Woityla, andere für sieben Rabbiner, Sonderkommandos und eine Gruppe von Frauen.

Daneben sind den Alphabeten Bücher aus der Bibel, Örtlichkeiten in Auschwitz, Matrikelnummern, Indikatoren usw. zugeordnet; sie wollen »Koordinaten in einem Sinnsystem mit wechselnden Bedeutungsebenen« sein, sind Bruchstücke und Sinnfetzen aus verlorengegangenen ganzen Texten, »Zeitfiguren, anwesend durch ihre Korrespondenz«.

Dem entspricht eine mobile, geflechtartige Inszenierung: in einer Art szenischer Lesung mit dazwischengeschobenen Ortswechseln tragen Schauspieler verschiedener Nationalität ihre Gesänge vor. Der Regisseur Georg Pauen, der auch die deutsche Übersetzung erstellt hat, hat sie über die Räume des Kunstamts Kreuzberg im Künstlerhaus Bethanien verteilt. Er ist bei der Aufführung anwesend, gibt Anweisungen, bleibt Dirigent. Jeder Schauspieler hat ein Kapitel. Alle lesen sie ihre Partituren eher stockend und zögernd vor, buchstabieren, flüstern, stammeln und stottern — je nachdem mit mehr oder weniger stark ausgeprägtem Akzent.

Die Räume bieten eine jeweils andere Kulisse: Kapitel sieben findet auf einer stark duftenden Wiese statt, Kapitel acht im Balanceakt auf morschen, übereinandergelegten Balken, das fünfte wird auf einem großen Podest rezitiert, das zwölfte zwischen zur Abreise gepackten Koffern und Schachteln gelesen, ein weiteres zusammengekauert unter einer Falltür — als Folge kaum mehr zusammenhängende Wortbrocken. So entsteht ein verzweigtes, simultanes Gewisper: das verhalten Geheimnisvolle erstellt einen weihevollen, sakral anmutenden Ort. Gelegentlich laufen die Alphabete dann zusammen, betreten gemeinsam eine Bühne. Der Grund der Zusammenkunft wird mit »Mangel« benannt. Es wird Gericht gehalten über den Buchstaben M, der kollaboriert habe — M wie Mengele, M wie Medizin. Dagegen wird vorgebracht, daß alle Buchstaben Mitträger waren. Man stimmt die Marseillaise der Buchstaben an, kommt darin überein, daß das Geschlechtsteil der Zigeunerin der Buchstabe sei, der allen fehle: »Wir müssen ihn aufnehmen, um beschlußfähig zu sein.« Neben der Bühne fällt ein Feuerschein wie aus einem Krematorium durch eine Glastür. Aus Laute, Grammophon, Ziegelsteinen und Erde schlagen die Schauspieler Laute.

Auschwitz wird sinnbildlich an den Haaren herbeigezogen. Durch Anrufung des Namens soll Sinn sinnlich werden. Doch im Grunde wird vor allem Absicht vorbuchstabiert. »Den Sprachlosen die Sprache geben!« nennt Gatti sein Anliegen als Dramaturg, Film- und Theatermacher: er selbst wurde als Résistancekämpfer in ein Arbeitslager bei Hamburg gebracht. Der Verlust der Freiheit beginne »mit dem Verlust des Wortes und Namens«. Daher ist das Wort für ihn Widerstand und Schöpfungsakt, Welt.

Leider trägt die Inszenierung bislang (sie will erst noch Theaterstück werden) vor allem tiefe Bedeutung und viel Betroffenheit vor. Der Zuschauer greift dankbar nach den minimalen Sinneinheiten und narrativen Brocken, nach jedem noch so geringen szenischen Element. Gerade aufgrund des hohen Metabewußtseins des Autors verkommt die Sprache hier zum reinen Lautträger, wird nicht »Verständigung«, nimmt keinen »verlorengegangenen Dialog« wieder auf. Wo keine konkrete Figur eine konkrete Geschichte vorträgt, ist Erfahrung nicht möglich, hat Auschwitz zuletzt noch einmal gesiegt. Michaela Ott

Noch heute und am Sonntag, 20.30 Uhr im Künstlerhaus Bethanien.