DEBATTE
: Wo ist der humane Staat?

■ Die Selbstgerechtigkeit der SPD darf nicht Kinkels RAF-Initiative gefährden

Wenn man heute rückblickend Bilanz zieht, kann man sich des Gefühls der Trauer über die Opfer, die dieser Kampf gefordert, über die Leiden, die er verursacht hat, und über die Vergeblichkeit all der Opfer und Leiden kaum erwehren. Um so dringlicher stellt sich die Aufgabe, die gesellschaftlichen Probleme ins Bewußtsein zu heben, aus denen diese Konflikte hervorgegangen sind. Sie sind weitgehend ungelöst, sie bestehen nach wie vor.“ Norbert Elias, Studien über die Deutschen, 1989

Am 8. Mai 1992 jährt sich die Befreiung von Andreas Baader zum zweiundzwanzigsten Mal. Heute gibt es mehr Bücher über die RAF, als sie in all diesen Jahren Mitglieder hatte. Alle Medien haben mit derselben Selbstverständlichkeit ihre RAF- Spezialisten (übrigens eine Männerkiste — die Gruppe bestand immer mehrheitlich aus Frauen), wie die Bundesanwaltschaft, die Polizeien und die Geheimdienste ihre Antiterrorismus-Abteilungen. Es ist eine Branche entstanden, und die Gesellschaft hat gelernt, mit dem Terrorismus zu leben — so wie sie mit den Millionen von Hungertoten, der Umweltkatastrophe, dem Autowahnsinn lebt. Als könne damit noch lange gelebt werden. Angesichts der gigantischen Probleme, die unsere Gesellschaft hat, müßte der Konflikt mit der RAF eigentlich längst und beiläufig gelöst sein.

Es gab von Anfang an Alternativen. Erst kürzlich hat Frau Dr. Einsele, Ende der 60er Jahre Gefängnisdirektorin in Frankfurt-Preungesheim und zuständig für die einsitzenden Kaufhausbrandstifter Andreas Baader und Gudrun Ensslin, öffentlich darüber nachgedacht, was wohl gewesen wäre, wenn man ihrem Gnadengesuch für diese Gefangenen stattgegeben hätte. Die Kaufhausbrandstifter waren zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden und sollten ihre Reststrafe antreten. Frau Einsele war beeindruckt gewesen von dem Engagement der beiden späteren RAF-Mitglieder für entlaufene Heimzöglinge und wollte nicht, daß diese Arbeit durch die erneute Inhaftierung abgebrochen werde.

Anfang 1972 forderte Heinrich Böll „Freies Geleit für Ulrike Meinhof“. Er wurde auf eine Weise niedergemacht, daß er an all dem Dreck, mit dem er eingedeckt wurde, fast erstickt wäre. Als dann ein halbes Jahr später fast die gesamte RAF verhaftet war, gab es keinerlei politische Auseinandersetzung. Was hat Brandt und Genscher daran gehindert, sich dieser Herausforderung zu stellen und mit uns Gefangenen zu sprechen? Statt dessen hat man es Polizei und Justiz überlassen. Drinnen die Isolationshaft und draußen „le Berufsverbot“. Die von seiten des Staates später angeleierte „geistige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus“ wurde nicht mit, sondern gegen die Gefangenen geführt.

Nachdem sie es mit einer dritten RAF-Generation zu tun hatten, gingen die Verfassungsschützer Boeden und Lochte Anfang der 80er immer massiver an die Öffentlichkeit. Sie sprachen davon, daß es falsch war, die Gefangenen zu isolieren, daß die staatliche Reaktion auf die RAF die Hauptursache für ihren Fortbestand wurde. Vor diesem Hintergrund hätte man vernünftigerweise erwarten könen, daß die Sozialdemokratie die Initiative von Bundesjustizminister Klaus Kinkel nicht nur mitträgt, sondern tatkräftig unterstützt. Das Gegenteil ist der Fall: „SPD sieht Rechtsordnung durch Kinkel gefährdet“ ('Kölner Stadtanzeiger‘). So das Resümee eines Rundfunkinterviews mit dem SPD-Rechtsexperten Penner. Frau Däubler-Gmelin ergänzend: Es dürfe „auf keinen Fall Geschäfte mit Terroristen geben“ ('Die Welt‘). Eine maßlose Selbstgerechtigkeit, die schwer faßbar ist. Was ist das — chronischer Wahlstarrkrampf?

Die Maßlosigkeit und Blindheit gegenüber der RAF muß endlich aufhören

Ralf Giordano schreibt: „Wir wissen heute in voller Übersicht, was nach 1945 geschehen ist: dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die umgebracht worden sind wie Insekten, folgte auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland das größte Wiedereingliederungswerk für Täter, das es je gegeben hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind sie letztlich nicht nur straffrei davongekommen, sondern konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen.“

Ich will die Morde der RAF nicht an anderen Verbrechen relativieren. Ich rechtfertige nichts. Ich will versuchen, mitzuhelfen, damit diese Maßlosigkeit, Halsstarrigkeit und Blindheit, mit welcher der RAF verwehrt wird, zur politischen Basisarbeit zurückzukehren, aufhört.

An Ostern war in der 'Bild am Sonntag‘ ein Artikel über die Frau des Polizeibeamten Norbert Schmidt, der im Oktober von einem RAF-Mitglied erschossen worden war. 'Bild‘ fragte die Witwe, was sie heute mit dem Täter tun würde. Ihre Antwort: „Erschießen“. Sie darf das sagen. 'Bild‘ nicht.

Der Täter muß sich nicht sorgen, ob er irgendwann mal begnadigt wird. Er ist seit 17 Jahren frei, ausgestattet mit einer neuen Identität und jeder Menge Geld. Gerd Müller, der diesen Polizisten erschoß, brach im Hungerstreik 1974 zusammen und machte ein Lebensgeständnis. Er gestand auch diesen Mord. Der wurde ihm geschenkt. Einige RAF-Mitglieder wurden auf dem Wege einer sehr freien Beweiswürdigung zu lebenslänglich verurteilt, ohne eine Spur von Respekt vor dem Fair-trial- Grundsatz, wonach im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden muß. Bei Gerd Müller gab es überhaupt keine Zweifel, aber er wurde nicht verurteilt, weil er sich zum Kronzeugen gegen seine früheren Freunde in Stuttgart-Stammheim machen ließ. Ohne jede gesetzliche Grundlage. Um das nachzuweisen, forderte Rechtsanwalt Schily als Verteidiger von Gudrun Ensslin volle Akteneinsicht und bekam sie nicht. Der damalige Bundesjustizminister, der diese Aktenteile sperrte, war Hans-Jochen Vogel, SPD. Frau Däubler-Gmelin und Herr Penner wissen das. „Keine Geschäfte mit Terroristen“.

Da hier wider besseres Wissen gegen die „Versöhnungsinitiative“ von Justizminister Klaus Kinkel Stimmung gemacht wird, geht es um Grundsätzlicheres. Was die Gegner dieser Lösung in den Reihen der CDUCSUSPD wirklich bewegt, können sich alle durch einen Blick in die Blätter der rechtsextremistischen und neofaschistischen Parteien klarmachen: Diese Menschenverächter, die sich am Wahlsonntag grinsend den Kameras präsentierten — „Wir sind doch keine Ausländerfeinde“ — setzen auf zwei Themen. Neben der Ausgrenzung der eingewanderten Minderheiten und der Abwehr von Flüchtlingen fordern sie bedingungslose Härte gegen Straftäter und Strafgefangene. Das waren auch die Kernelemente des Mörderregimes der Nazis: Härte gegen Fremde und zu Fremden gemachten deutschen Juden und deutschen Sinti und Härte gegen die von der Norm „arisch“ Abweichenden aus der eigenen Gesellschaft. Statt sich davon unmißverständlich abzugrenzen, erlebten wir schon am Abend der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg einen pädagogischen Exzeß: „Liebe Protestwähler...“

Mir liegt es fern, Sozialdemokraten in die Nähe von Neonazis zu rücken. Das Problem ist ein Staatsverständnis seit Kaiser Wilhelms Zeiten, in dem die Menschen für den Staat da sind und nicht umgekehrt. Das arbeitet den Rechten zu: Herr Penner kommt nach 22 Jahren RAF und der Erfahrung, daß dieser Konflikt politisch und eben nicht polizeilich gelöst werden muß, zu der Aussage, daß die RAF ein Fall für die Polizei und die Strafjustiz sei.

Norbert Elias: „Aber ein entschiedener Bruch mit der Tradition des Obrigkeitsstaates, eine beharrliche, experimentelle Humanisierung aller Instanzen des Staates, Parteien, Bürokratie, Militär mit eingeschlossen, wäre sicher als Mittel der Reinigung von dem Stigma der Vergangenheit und damit zugleich als Mittel der gegenwärtigen und zukünftigen Sinngebung von Staat und Nation ebenso nützlich wie erfreulich gewesen. Ein humaner Staat, so etwas fehlt eigentlich noch in der Welt.“

Nicht nur um ihretwillen, auch um dieser Gesellschaft willen müssen die Gefangenen aus der RAF rauskommen, muß diese Initiative von Bundesjustizminister Kinkel gelingen. Klaus Jünschke

ehemaliges RAF-Mitglied, lebt und arbeitet in Köln