Tschernobyl bleibt tödliche Bedrohung

■ Die Menschen in den verseuchten Gebieten leiden heute noch unter den Folgen von Tschernobyl. Aus dem Unglückreaktor dringt immer noch Strahlung. Davon gänzlich unbeeindruckt, will die Regierung von...

Tschernobyl bleibt tödliche Bedrohung Die Menschen in den verseuchten Gebieten leiden heute noch unter den Folgen von Tschernobyl. Aus dem Unglückreaktor dringt immer noch Strahlung. Davon gänzlich unbeeindruckt, will die Regierung von Weißrußland zwei AKWs bauen.

Vor sechs Jahren, am 26. April 1986, kam es zur Katastrophe in Tschernobyl. Anläßlich des Jahrestages wird es heute in Kiew eine Kundgebung vor der Sophienkathedrale geben. Dazu aufgerufen haben der Dachverband der ukrainischen Umweltgruppen „Grüne Welt“, die Grüne Partei, die nationaldemokratische Bewegung „Ruch“ und die Tschernobyl-Kommission des Obersten Sowjet.

Kiew hat unter den Folgen der Katastrophe besonders zu leiden. die Stadt liegt nur 85 Kilometer südlich von Tschernobyl. Täglich kann es zu einer neuen Katastrophe kommen, denn zwei der vier Reaktoren in Tschernobyl sind noch in Betrieb. Nachdem es im Oktober letzten Jahres am Reaktor Nr. 2 gebrannt hatte, hat sich der Oberste Sowjet der Ukraine im November letzten Jahres dazu durchgerungen, die Reaktoren Nr. 1 und 3 bis 1993 abzuschalten. Beschlossen wurde auch ein Baustopp für Atomkraftwerke. Doch schon die Krankenstatistik der Stadt zeigt, daß viel entschiedenere Maßnahmen nötig sind.

Nach wie vor gibt es keine vollständigen Informationen über die Folgen der Katastrophe. Die Informationsbeschränkungen für Journalisten sind 1989 zwar aufgehoben worden, doch nach wie vor gibt es keine zentrale Information von der Regierung. Bleiben die Berichte der staatseigenen Zeitungen.

Die jüngst vom Dachverband „Grüne Welt“ veröffentlichten Zahlen sprechen für sich. 46 Prozent der Ukraine sind mit mehr als 1 Curie pro Quadratkilometer belastet. Das entspricht 37.000 Becquerel pro Quadratmeter. In der West- und Zentralukraine gibt es kein Gebiet, das nicht radioaktiv belastet ist. Zwei Millionen Hektar Land in der Ukraine sind für die Landwirtschaft unbrauchbar geworden.

Bei mehr als 150.000 Menschen — davon 60.000 Kindern — waren die Schilddrüsen einer erhöhten Strahlung ausgesetzt. Nach Angaben der unabhängigen Hilfsorganisation „Tschernobyl“ sind sechs Jahre nach der Katastrophe 8.000 Männer der Reinigungsmannschaft gestorben.

Tschernobyl ist einer der wesentlichen Gründe, warum die Geburtenrate in der Ukraine rapide gesunken ist. 1991 gab es 30.000 mehr Tote als Neugeborene. In Kiew sind in den letzten zwei Jahren 15 Prozent mehr Menschen gestorben. Auch die Krankheitsrate ist in Kiew wesentlich höher als in anderen Städten der Ukraine.

Das Atomkraftwerk Tschernobyl liegt heute in einer 30-Kilometer-Sicherheitszone. Aus diesem Gebiet wurden alle Bewohner evakuiert. Jetzt arbeiten dort nur noch Wissenschaftler, Sicherheitskräfte und die Bedienungsmannschaft des Atomkraftwerks.

Über die kontaminierten Gebiete außerhalb der 30-Kilometer-Zone informiert eine offizielle Karte der Regierung. Auflage: 10.000 Exemplare. Als verseucht ausgewiesen ist eine große Fläche westlich von Tschernobyl und mehrere kleinere nördlich und südlich, verstreut in der Region. Wie unsinnig die Einteilung in zwei verschiedene Gefahrenzonen ist, wird an dem Ort Scharne deutlich. In dem geteilten Ort gilt ein Teil des Dorfes als verseucht und wurde evakuiert, in dem anderen Teil wohnen Menschen.

In den ersten Monaten nach der Katastrophe wurden 116.000 Menschen aus den kontaminierten Zonen evakuiert. Es gibt Pläne, weitere 300.000 Menschen umzusiedeln. Danach bleiben zwei Millionen Menschen, die auf radioaktiv verseuchten Gebieten leben. Nach Angaben der „Grünen Welt“ werden dort immer noch zwischen 185.000 und 1.850.000 Becquerel/qm gemessen.

Die Menschen, die in den kontaminierten Gebieten leben brauchen medizinische und soziale Betreuung. Doch die Regierung hat für solche großangelegten Programme kein Geld. So bekommt jeder Einwohner der belasteten Gebiete als Entschädigung 15 Rubel täglich. Das reicht gerade, um ein Laib Brot zu kaufen. In den kontaminierten Gebieten werden nach wie vor Nahrungsmittel erzeugt. Die Menschen in Kiew trinken Milch und essen Gemüse und Fleisch aus diesen Gebieten. Von dem Atomkraftwerk und dem verseuchten Gebiet gehen immer noch große Gefahren aus. Der Sarkophag, der um den zerstörten Reaktor errichtet wurde, ist spröde, hat ungefähr tausend kleine Löcher. Regen und Schnee rinnen in den Reaktor, das Dach gilt als einsturzgefährdet. Ein neuer Sarkophag soll erst in drei Jahren fertig sein. Einige Physiker in Kiew, die ungenannt bleiben wollen, meinen, durch die verseuchte Zone um Tschernobyl werde die Luft ständig neu kontaminiert. Auch weit außerhalb der offiziell als belastet bezeichneten Gebiete besteht also die Möglichkeit, ein strahlendes Partikel einzuatmen.

In Kiew leben fast 600.000 Kinder unter 14 Jahren. Das sind mehr Kinder, als in den offiziell als belastet eingestuften Gebieten leben. Ein Regierungsprogramm, um diesen Kindern zu helfen, gibt es nicht. Grund gäbe es dafür mehr als genug. Die Komplikationen bei Schwangerschaften stiegen um das 1,6- bis 3fache. Neugeborene haben Krankheiten an der Schilddrüse, der Haut und den bluterzeugenden Organen. Auch Herzdefekte häufen sich. Die Zahl der Lungenentzündungen bei Kindern in Kiew stieg um das 6,5fache. Leber- und Gallenkrankheiten stiegen um das 4,8fache. Auch Krebserkrankungen der Schilddrüse nehmen zu. Am häufigsten sind bei Kindern Krankheiten der Atemwege, Kreislauf und neurologische Erkrankungen. Bei 70 Prozent der Kinder, die aus den kontaminierten Gebieten evakuiert wurden, ist das Immunsystem geschwächt.

Für den noch wachsenden Kinderorganismus ist die durch Radionukleide verseuchte Nahrung besonders gefährlich. Das Immunsysstem wird geschwächt, die Kinder werden anfälliger für Krankheiten. Eine vitaminreiche Ernährung ist wichtig für die Kinder. Doch die ist kaum zu beschaffen.

Die Mütterorganisation „Mama '86“ kämpft darum, daß Kiew den Status einer belasteten Zone bekommt. Dies würde den Kindern viele Vergünstigungen bringen. Ann Syomina, Vorsitzende der Organisation, kritisiert, daß die Tschernobyl- Hilfe aus dem Westen bei den wirklich Betroffenen vielfach nicht ankommt. Es sei völlig unklar, nach welchen Kriterien die Gelder verteilt werden. Die Hilfe aus dem Westen werde auch nicht effektiv genutzt, meint Frau Syomina. „Die Reisekosten für ein Kind nach Deutschland reichen aus, um 30 Kindern in sauberen Gebieten der Ukraine einen Urlaub zu ermöglichen.“

Was kann man in der Ukraine heute noch gegen die Folgen von Tschernobyl tun? Sergej Kurykin, Sekretär der Partei der Grünen der Ukraine, meint: „Wir haben jahrelang gekämpft, heute müssen wir einsehen, daß wir mit den Folgen der Katastrophe leben müssen. Es ist unmöglich, die ganze verseuchte Erde, die Felder und Menschen zu reinigen.“ Einen Schutz vor radioaktiv belasteter Nahrung gebe es heute nicht. Zum einen gibt es nicht die technischen Möglichkeiten zur vollständigen Kontrolle der Nahrung, zum anderen gibt es nicht genügend Nahrungsmittel in der Ukraine. Die Dimension ist gewaltig: für 80 Prozent der ukrainischen Bevölkerung besteht die Notwendigkeit der Gesundheits- und Nahrungsmittelkontrolle. „Die ukrainische Regierung, die öffentlichen Organisationen, aber auch die Weltgemeinschaft haben nicht die Möglichkeiten für eine globale Hilfe für die Ukraine. Den Großteil der Arbeit müssen wir selbst machen.“

Zur Energiepolitik in der Ukraine meint Kurykin: „Wir brauchen keine neuen Kraftwerke.“ Denn: Zwei Atomkraftwerke arbeiten nur für den Export nach Polen und in die Tschechoslowakei. Ein alternatives Energieprogramm müsse folgende Eckpunkte umfassen: Nein zur Atomkraft, ja zu Gas, Kohle und Öl; Wiedernutzung von Energie und Energieeinsparung. Das Energieministerium wolle von solch einem Programm nichts wissen. Die Anti- Atombewegung — so Kurykin — kämpfe heute an zwei Fronten: Zum einen gegen die Energielobby, zum anderen gegen die Nuklearlobby und den Militärkomplex. Ulrich Heyden, Kiew