SHORT STORIES FROM AMERICA VONMARCIAPALLY

Während der letzten Rezessionsjahre habe ich mir ein paar Berufsalternativen überlegt, damit ich auch weiterhin die Miete aufbringen kann. Leser dieser Kolumne erinnern sich vielleicht, daß ich nach dem Vorbild meines Präsidenten den Sockenverkauf erwog. Bush hatte für 28 Dollar Socken gekauft, um der Wirtschaft neuen Schwung zu geben, und ich glaubte, es stünde uns ein Boom für Unterwäsche ins Haus. Die Socken erwiesen sich als Pleitegeschäft, ebenso wie die Berufslaufbahn des Kongreßstenografen (während der Iran-Contra-Anhörungen) und des Deserteurzählers (während des Golfkrieges). Dennoch kann ich es nicht lassen, die Berichte über die Konzentration im amerikanischen Verlagswesen zu lesen — erst letzte Woche reduzierten Bantam Books ihr Titelverzeichnis, um Platz für Bestseller und Sachbücher zu schaffen. In meiner Zukunftsangst habe ich, wie ich glaube, dieses Mal etwas Solides gefunden.

Wir stehen heute vor einem Bibliothekenboom. Nach Jahrzehnten blöder Bemerkungen über blaugefärbte Haare und Gesundheitsschuhe, nach Jahren der Kürzungen im Ausbildungssektor, stehen Bibliothekare jetzt, da kilometerweise verstaubte Akten ans Tageslicht kommen, vor goldenen Zeiten. Allein die 200 Kilometer Stasi-Akten werden einer Armee von Archivaren auf Generationen Arbeit verschaffen — in der Debatte um Offenlegung oder Nicht- Offenlegung wurde dieser Gesichtspunkt kaum beachtet. Jeder Kilometer besteht aus einer Million Blatt Papier im Gewicht von 35 Tonnen, war letzte Woche in einer Titelgeschichte des 'New York Times Magazine‘ zu lesen. Sie kamen damit vier Monate zu spät, da die Geschichte in Europa schon im Januar abgegessen war, aber sie berichteten trotzdem. Eine bessere Werbung für Bibliothekarsarbeit läßt sich gar nicht vorstellen. (Sie schmückten ihren Artikel auch mit dem Satz „Mit pedantischer Tüchtigkeit, wie sie außerhalb Deutschlands fast unbekannt ist, ließen sie jede Einzelheit niederschreiben und archivieren“ — nur damit klar ist, wohin das PR-Geld geflossen ist.)

Zweifellos klopfen jetzt Altmeister sämtlicher Bibliothekssysteme aus allen Gegenden der Weltrezession an die Stasi-Türen. Irgend jemand muß ja Aufzeichnungen über all die Aufzeichnungen führen. Aus den USA wird mit Sicherheit nicht nur eine Emigrantenwelle von Bibliothekaren nach Deutschland schwappen, sondern auch von unterbeschäftigten Akademikern, die vom Taxifahren genug haben, und von arbeitslosen Arbitrage-Experten von der Wall Street. Die Jungens von der Wall Street sind für diese Aufgabe besonders gut geeignet, wegen ihrer Erfahrungen mit Insider-Informationen — die Stasi hat ihr Material ja auch nicht anders genannt, oder? Im Gegensatz zu amerikanischen Maklerfirmen war die Stasi allerdings ein sicherer Arbeitgeber. Und jetzt ist sie schon wieder ein Standbein für die Wirtschaft.

Die Leute werden ihre eigenen Akten lesen wollen, und die müssen deshalb katalogisiert und gekennzeichnet werden. Regierungsmenschen werden die Akten anderer Leute lesen wollen, und für deren Studium werden erneut Archivare gebraucht, die — wenn sie auch nur ein bißchen unternehmerisches Gespür haben — zu diesem Thema gutbezahltes Fachwissen anhäufen werden. Neuere Artikel im 'Spiegel‘ und der 'New York Times‘ sind bloß die Spitze des Eisbergs, an dem die Stasi in Schande zerschellte. Bücher und sogar Dramen warten schon. Der Broadway-Hit dieser Saison ist Ariel Dorfmans Der Tod und das Mädchen über eine Frau und die chilenische Geheimpolizei. Warum nicht auch ein Drama über die deutsche Geheimpolizei und die Nachkriegsgeneration? Wir könnten es Kindertotenlieder nennen. Die Männer, die Evita machten, müßten das Musical dazu schon im Kopfe haben. Solche Werke schaffen Arbeitsplätze in der darniederliegenden Theaterindustrie und lassen die Kartenverkäufe hochschnellen. Scharen junger Akademiker, die niemals den Fahrersitz eines Taxis kennenzulernen brauchen, werden an den Universitäten neue Fachgebiete bevölkern, die ihrerseits wieder Studenten und Forschungsgelder anziehen werden.

Ich habe nicht vor, diese Karrierechance an mir vorübergehen zu lassen. Leser dieser Kolumne wissen, daß ich im letzten Jahr Deutsch gelernt habe. Nachdem ich all die Konjugationen und den subjektiven Gebrauch des Konjunktivs überlebt habe, kommt mir das Stasi-ABC gerade recht.

Aktenwälzen ist ein Wirtschaftsankurbler, der durch seine Einfachheit noch eleganter wird — es ist so einfach, daß die Amerikaner sich um eine eigene Spielart bemühen. Ich weiß, daß Mr. Stone für sich das Verdienst beansprucht, daß wieder über die Öffnung der Kennedy-Akten gesprochen wird, aber einleuchtender scheint mir, daß es sich um Bushs Fortsetzung der Socken- Offensive handelt. Der Wahlkampf kommt in seine heiße Phase: Clinton hat den Schlachtruf der Gesundheitsversicherung, Brown hat die Steuerreform. Bush braucht eine Wirtschaftsspritze, oder doch wenigstens ein Etikett, das er den Wählern verkaufen kann. Also öffnen wir die Kennedy-Akten, und die Leute werden ihre eigene Akte lesen wollen, Regierungsmenschen werden die Akten anderer Leute lesen wollen... lauter Arbeitsplätze für Bibliothekare und Akademiker, damit nicht alle den Verlockungen der EG erliegen.

Gegenüber den Stasi-Akten haben die Kennedy-Akten den Vorteil, daß sie in erster Linie Tote betreffen. Da viele der darin aufgeführten Leute tot sind, regen sie akademische Betriebsamkeit an, ohne der laufenden Politik ins Handwerk zu pfuschen. Nur sehr wenige Amerikaner wollen wirklich wissen, wer JFK umbrachte; Seine Bedeutung hat das Attentat vor allem als eine moralgesättigte Geschichte von Gut und Böse, in der die Amerikaner sich mit dem Goldjungen identifizieren können. Stone behauptet, JFK habe sich aus Vietnam zurückziehen wollen, weil Stone einen Helden braucht. JFKs Schweinebucht-Aggression und das Verprügeln von Jim Garrisons Frau lassen ihn kalt, aus dem gleichen Grund. Mit der Öffnung der Kennedy- Akten könnte die Nation erneut dem Rausch der Seifenoper verfallen. In Wirklichkeit empfehle ich Bush die Öffnung der Akten ja nicht als Wirtschaftsspritze, sondern wegen JFKs Unterhaltungswert. Während der Clarence-Thomas- Anhörungen klebten Millionen vor dem Fernseher, noch einige Millionen mehr beim William- Kennedy-Smith-Prozeß. Während des Verfahrens gegen den Mafioso John Gotti hieß 'Newsdays‘ beliebteste Kolumne „Gotti-Moden“ und informierte die Leser über die neuesten Textilerscheinungen vor Gericht. Aus den JFK-Akten könnte das Pillendosenhütchen wiederauferstehen — noch eine Spritze für die Wirtschaft. Aber der größte Vorteil läge darin, daß die Öffentlichkeit nicht auf die Akten aus Bushs CIA-Zeit gestoßen wird — die aus Noriegas Geheimversteck. Noriegas Verurteilung vorletzte Woche vor einem Gericht in Miami schickt ihn auf Lebenszeit ins Gefängnis. Wir werden von seinen Aufzeichnungen nichts zu sehen kriegen, bevor seine Freunde ebenso im Mythos entschwunden sind wie JFK, oder bevor Bush mit angeschlagener Gesundheit in der chilenischen Botschaft Zuflucht gesucht hat — und das ist ja wirklich nicht besonders wahrscheinlich.

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning

DIEFORTSETZUNGVONBUSHSSOCKENOFFENSIVE:DIEBIBLIOTHEKENBOOMEN