KOMMENTAR
: In der Wagenburg

■ Der Streik der ÖTV widerspiegelt den alten Antagonismus von Arbeit und Kapital

Tarifverhandlungen haben ihr festes Drehbuch. Doch für die Dramaturgie sind die Tarifparteien selbst verantwortlich. Die Halsstarrigkeit, mit der die öffentlichen Arbeitgeber und Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in den ersten Arbeitskampf seit 18 Jahren steuern, zeigt, daß es diesmal um mehr als den üblichen Verteilungskampf geht. Schließlich liegen Schlichterspruch und letztes Arbeitgeberangebot nur noch 0,6 Prozent auseinander, und es geht, sofern die Troika Seiters, Simonis und Klein richtig gerechnet haben, um zusätzliche Belastungen von rund 2,5 Milliarden Mark — bei öffentlichen Ausgaben von insgesamt rund 900 Milliarden eine geradezu geringe Summe. Für die Arbeitnehmer macht die Differenz bei einem Durchschnittsverdienst von 3.500 Mark brutto rund 25 Mark monatlich aus. Lohnt sich dafür ein Streik?

Alles deutet jedoch auf eine Machtprobe hin. Die Inszenierung der Arbeitgeber wird längst aus dem Kanzleramt gesteuert. Mittlerweile geht das frohe Wirtschaftsfest der letzten drei Jahre zu Ende, die Staatskassen sind leer — und ein Schuldiger für die Misere im Osten muß her. Den haben Bundesregierung, Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsforschungsinstitute und Bundesbank in hohen Tarifabschlüssen ausgemacht. Kein Wunder also, daß gerade die öffentlichen Arbeitgeber, allen voran Bundesinnenminister Rudolf Seiters, schon aus optischen Gründen eine Vier vor dem Komma sehen wollen. Doch statt den drohenden Streik, der die öffentlichen Kassen weit mehr kosten dürfte, als er wert ist, im letzten Moment mit einem neuen Angebot abzuwenden, markiert Seiters Härte. Es liegt auf der Hand, daß die konservative Regierung es auf eine grundsätzliche Wende in der Tarifpolitik anlegt. Doch sehr schnell könnte Seiters, und mit ihm Verzichtskanzler Kohl, der freiwillig 1.300 Mark seines Gehalts abtreten will, zum letzten Mohikaner werden: Die oft bezweifelte Streikbereitschaft ist vorhanden, und im Arbeitgeberlager herrscht babylonisches Stimmengewirr. Die Länder-Verhandlungsführerin Heide Simonis (SPD) hält den Schlichtungsspruch weiter für bedenkenswert, die SPD-Ministerpräsidenten signalisieren ihre Bereitschaft, notfalls auch 5,4 Prozent mehr zu bezahlen, und selbst der CSU-dominierte bayrische Städtetag spricht sich für eine Erhöhung des Angebots aus.

Zu Recht wehren sich die Gewerkschaften gegen das verhängte Lohndiktat. Gestern haben sie noch einmal klargemacht, daß sie zu durchgreifenden Streikmaßnahmen bereit sind. Für die Arbeitnehmerorganisation indes offenbart der Tarifkampf ein ganz anderes Desaster: Während ihre programmatische Modernisierungsdebatte so gut wie zum Erliegen gekommen ist, verfallen Basis und Apparat zusehends jener konservativen Abwehrhaltung, die an eine Wagenburg erinnert. Die Gewerkschaften haben mit ihren hohen Forderungen Erwartungen bei ihrer Klientel im Westen geweckt, die mit deutlichen Lohnsteigerungen bedient werden muß, obwohl dies einer notwendigen Umverteilung von West nach Ost entgegenläuft. Und während bei den West-KollegInnen die Bereitschaft zum Verzicht weiter schrumpft, setzen deren Interessenvertreter auf eine Politik, die sich einseitig an einer Erhöhung des materiellen Lebensstandards orientiert. Ein Sonderopfer des öffentlichen Dienstes (West) werde es auch in diesem Jahr nicht geben, hat die ÖTV-Spitze unermüdlich erklärt.

Die Gewerkschaften haben in diesem Jahr den griffigen Slogan Teilen verbindet zu ihrem 1.-Mai- Motto gemacht. Doch längst geht es nicht mehr allein darum, von oben nach unten umzuverteilen. Wer Solidarität nicht zum hohlen Schlagwort einer sozial gerechten Verteilungspolitik machen will, der muß sich auch Gedanken darüber machen, wie die sozialen Verhältnisse im wiedervereinigten Deutschland gestaltet werden sollen. Und wer eine Brücke über die sich vertiefende soziale Spaltung schlagen will, muß bereit sein, unten zu teilen — zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen West und Ost. Statt dessen betreibt die ÖTV weiter eine Vogel-Strauß-Politik, als ob die Kosten der Einheit nichts mit Tarifpolitik zu tun hätten. Aus einer Wagenburg aber, die nur den alten Antagonismus von Kapital und Arbeit im Blickfeld hat, entwickelt sich keine Gestaltungskraft. Erwin Single