Letzter Zeuge des Exils

■ Der Schriftsteller Hans Sahl bei den Berliner Lektionen

Die Grenze ging durch den Zug, man hörte sie sprechen... Deutschland wurde immer kleiner. Vorne war schon ein anderes Land. Jetzt war Deutschland nur noch so groß wie mein Abteil... Denn stand die Grenze vor mir... Deutschland war nur noch einige Zentimeter lang, die Grenze sprach etwas undeutlich... Ihren Vornamen, sagte sie... Sie konnte sich nicht von dem Buchstaben K trennen... Ihren Paß... Die Stimme kam schon aus einem anderen Land.«

Der hier seine Flucht aus Deutschland erzählt, nach Prag, vor nahezu 60 Jahren, ist ein Zeuge dieses Jahrhunderts. Hans Sahl trägt »den Zettelkasten mit den Steckbriefen seiner Freunde wie einen Bauchladen vor sich her«, auch am Sonntag vormittag im Renaissance-Theater in jenem Berlin, das er nur für kurze Zeit kennengelernt hatte: »Da war ein Sommer und bot sich an mit heftiger Gebärde. Da war kein Sommer mehr, nur ein Zuschlagen von Türen und eine Blume aus Eis.«

Dieses Deutschland, das sich auf einen Zeigefinger verkürzte, bis es ganz weg war, war das nationalsozialistische. Aber auch das bundesrepublikanische hat bis vor wenigen Jahren die Türen nicht wieder aufgemacht. Erst vor zwei Jahren kam Hans Sahl zurück. Der Tod des Akrobaten, Die Wenigen und die Vielen, sind erst 1991 bei Luchterhand verlegt worden. Sahl, 1902 in Dresden geboren, war schon beinahe 90. Sein Antistalinismus sei »zu früh importiert« gewesen, erläutert er die Verspätung, nach dem Krieg und noch in den 50er Jahren habe den niemand, nicht einmal die Mitglieder der Gruppe 47, gewollt.

Von dem einzigen Buch, das schon in den 50er Jahren erschienen war, wurden nur 900 Exemplare verkauft. Einer der wenigen, die es damals positiv rezipierten, war Wolfgang Koeppen. Sahls Antitotalitarismus habe ihn, Koeppen, schon ins »Exil im Exil« (Titel eines ebenfalls 1991 bei Luchterhand erschienenen Buches) getrieben. Wer sich im Pariser Exil dem Diktat der Komintern nicht gebeugt hatte, wurde unter Druck gesetzt bis hin zur Drohung der Denunziation an die Gestapo. Als »der letzte Überlebende von etwa zwanzig Autoren« — darunter Alfred Döblin, Walter Mehring, Joseph Roth — wollte Sahl daran erinnern, wie merkwürdig es doch sei, daß keiner dieser Aufrechten in deutscher Erde gestorben sei.

Erinnerungen eines Moralisten hat er seiner Autobiographie als Untertitel gegeben. Klein und hamsterbäckig saß er auf dem Podium: mit 92 Jahren noch immer ein kampfbereiter Mann. Seine Augen, so Moderator Haack, seien unten bei seiner Frau in der ersten Reihe. Hans Samel lieh seine Stimme aus, kongenial klein und verschmitzt, mit den notorischen roten Socken, machte er sich den Spaß, so fein wie möglich zu pointieren. Ganz Ohr der Autor selbst, abhörend,schmunzelnd, lachend, ein kleiner Griff rüber zu Samels Knie. Und später auch seine brüchige Stimme mit einem Plädoyer an die Deutschen: »Hört endlich auf, immer recht haben zu wollen, werdet fähig zum Kompromiß.«

Hätte er ein Schicksal haben dürfen wie ein Durchschnittsdeutscher, wäre er wohl ein durchschnittlich aufrechter Mann und ein durchschnittlicher Genießer geworden, hätte seine Gedichte in Frauenzeitschriften neben das Kochrezept und die Wahrheit in die Mitte plaziert, wo sie niemandem schaden kann. So aber, wie die Dinge kamen, mußte er Gedichte publizieren neben Greuelnachrichten über die Martern seiner ermordeten Freunde. Mußte lernen, seine Gedanken zu verbergen. Und wurde kein Mitglied der Akademie (auffälliges Räuspern von Samel): »Ich lehne es ab, ein Held zu sein. Ich bin ein Mensch dieses Jahrhunderts. Das ist alles.«

Weil er kein Deutschland hatte, berichtet er von der Welt. Auch von einem Besuch bei den Manns in Küßnacht, dem er den Titel Audienz verlieh: während des nachmittäglichen Teetrinkens »komponierte Thomas Mann die Gespräche wie Buchseiten... brach das Brot seiner Grammatik mit den Seinen und verteilte es huldvoll über die Teller...« Oder vom Freitod eines Freundes im Pariser Exil, vom eigenen Exil in New York: »unter spärlichen Bäumen sitzend, verdurstend wie sie«; von Begegnungen mit amerikanischen Antisemiten, aber vor allem mit der »freiheitlichen Linken« in Coney Island, die ihm vergönnte, die »Nähe zum Menschen« und die Vielfalt der Meinungen auszukosten. Hier bekam er, was ihm Deutschland verweigert hatte: »man wurde zugelassen, man gehörte dazu.«

Später an diesem Vormittag wurde die Lorelei als Hommage an jenen »unbekannten Dichter« gesungen, der Heinrich Heine hieß. Und Sahl selbst rezitierte zum Abschluß jenes seiner Gedichte, das Wolf Biermann von ihm vertont hat: »Ich gehe langsam aus der Welt heraus, setze meinen Stein auf den Lärm von gestern, auf den Lärm eines zu Ende gehenden Jahrhunderts...« Michaela Ott