Endlich wieder zu Hause

■ Philharmoniker wieder am gewohnten Platz: Eröffnung der Philharmonie mit Arnold Schönbergs »Gurreliedern«

Ob sie denn nun klingt, und wie sie denn nun klingt, und ob genau so wie früher oder doch ein bißchen anders, darüber werden die AbonnementbesitzerInnen im erblichen Adelsstand nun unendlich debattieren können. Bei mir, Block C oben links, kamen die Celli und Bratschen ganz unvergleichlich an, und alles andere war sehr gut zu hören.

Jedenfalls ist die Philharmonie wieder offen, und Bausenator Nagel hat seine 45 Millionen verbaut. Die Saaldecke ist eine neue Rabitzdecke (Putz auf Drahtgeflecht) und hat akkurat dieselbe laservermessene, denkmalgeschützte, Scharounsche Form wie die vorige Rabitzdecke, nur ist sie ein bißchen dicker und etwas praktischer aufgehängt. Über ihr befindet sich ein Laufboden, von dem aus Mikrophone, Deckenleuchten und sonstiges technisches Gerät bedient werden können.

Im Juni 1988 kam ein wenig Putz nieder. Aufschlagspunkt: neben dem Dirigentenpult. Alarmstufe 1. Im Winter begann um den Fall ein Debatten-Sturm in Orkanstärke. Der mit Scharoun vertraute Architekt Wisniewski und seine Anhänger vertraten den Glaubenssatz, eine Putzdecke könne »akustisch altern«, was sie zu eigener, akustikverbessernder Schwingungsfähigkeit gebracht habe. Man dürfe die darob aber mürbe Gewordene daher keineswegs erneuern, sondern müsse sie behutsamst reparieren.

Die andere Partei hat gewonnen, und über die Kosten, nur 15 Millionen mehr als veranschlagt, wird nicht mehr geredet. Dafür hat man schließlich auch die Stühle — und die sind ebenfalls akustisch relevant — frisch be- und das Parkett abgezogen. Um die Buchstaben für das schwere Wort Makeupraum im unteren Foyer wieder an die Wand zu kleben, hat es nicht mehr gereicht. Und überhaupt, ein Ereignis war das Ereignis der Philharmonie-Wiedereröffnung nicht recht zu nennen. Aber: Die Berliner Philharmoniker spielen wieder am gewohnten Platz. Meine Konzertnachbarin geht schon seit zwanzig Jahren hin, ich ungefähr seit zweien.

Wenn schon an Sekt, Staatskarossen und Promis, so wurde beim Wiedereröffnungskonzert doch wenigstens nicht an Musikern gespart: drei vierstimmige Männerchöre, ein achtstimmiger gemischter Chor, fünf hochkarätige Gesangssolisten, die in diesem Saal bemerkenswert stimmschwache Schauspielerin Barbara Sukowa und eine Orchesterbesetzung, die jedes Trommelfell mühelos wegfetzen könnte, waren aufgeboten, um Arnold Schönbergs Gurrelieder zu exekutieren. Es war ein großes Konzert, ein Riesenerfolg.

In diesem wagnerianisch-spätromantischen Monumental-Opus ist der spätere fein ziselierende Zwölf- und Neuntöner nur zu ahnen, wenn man um den weiteren Verlauf der Dinge weiß. 1900 konzipiert, vollendet 1911, uraufgeführt 1913, als der Komponist längst andere Wege eingeschlagen hatte, waren die Gurrelieder zu Lebzeiten des Meisters dessen größter Erfolg. Ironie der Kunstgeschichte und nicht leicht errungen, da das Werk seines enormen Aufwandes wegen selten gespielt wurde.

Eine dänische Sage gibt den Stoff: König Waldemar liebt das Mädchen Tove, die er auf sein Schloß Gurre brachte. Die eifersüchtige Gattin läßt das schöne Kind ermorden. Der König trauert um sie. Mit der wilden Jagd seiner Mannen rast er durch nächtliche Wälder, bis endlich mit dem anbrechenden Tag die milde Jagd des Sommerwindes in naturmythischer Versöhnung das Werk ausklingen läßt. Sonnenaufgang: triumphal, blechgepanzert, riesig. Chormassen, zehn Hörner, sieben Trompeten, sieben Posaunen, Kontrabaßtuba, Pauken, Becken, Forte fortissimo. Es klingt ganz mächtig nach Breitwand, Technicolor, Prärie, Sonnenaufgang und Hollywood. Dafür können weder Schönberg noch sein hier unüberhörbares Vorbild Wagner etwas — im Gegenteil, die Amis wissen, was wirkt.

Das Stück beginnt mit murmelndem Weben, endlos fortgesponnener chromatischer Melodieseligkeit des Liebespaares. Die Stimmen Cheryl Studers und Siegfried Jerusalems wurden vom dichten Gewebe der vielfach geteilten Streicher förmlich aufgesogen.

Das Orchester erzählt dann im Zwischenspiel — Gelegenheit für Claudio Abbado und seine Mannen, im satten Farbenspiel der Partitur in gewohnter Kunstfertigkeit zu brillieren — die eifersüchtig hastigen Schritte der Gattin, den Tod des Mädchens und ein Waldvogel singt (direkter kann die Anspielung auf Wagner kaum sein) über Waldemars Trauer. Dann rechtet der König mit Gott. Höhepunkt, Ort der kühnsten Wendungen und Einfälle im Stück; Momente des Zukünftigen sind hier erahnbar. Vieleicht ist es dieses uralte Motiv jüdischen Glaubens, das Schönberg bewogen hat, eine dänische Tristan-und-Isolde-Geschichte mit einem solchen unerhörten musikalischen Glanz auszustatten. Überdeutlich das Gefühl: hier ist eine Kunstentwicklung an ihrem Endpunkt angekommen. Nichts geht mehr.

Man ging beeindruckt nach Hause. Irene Tungler