...ein großes schwarzes Kreuz darauf

Neue Ausgaben über das Leben des Michail Bulgakow  ■ Von Elke Schubert

Während der Mittagsruhe klingelte das Telefon. Es war der 18.April 1930. Drei Wochen zuvor hatte der Schriftsteller und Dramatiker Michail Bulgakow einen verzweifelten Brief an die sowjetische Regierung geschrieben: „Beim Sichten der Zeitungsausschnitte stellte ich fest, daß es innerhalb von zehn Jahren in der sowjetischen Presse 301 Besprechungen meiner Werke gegeben hat. Drei davon haben mich gelobt, 298 feindselig zerrissen.“ Er bat um die „Anordnung“, „sofort das Territorium der UdSSR“ zusammen mit seiner Ehefrau verlassen zu dürfen. Und sollte ihm die Ausreise verweigert werden, wollte sich Bulgakow als „ehrlicher Spezialist“ dem sowjetischen Theater zur Verfügung stellen. „Wenn ich nicht als Regisseur angestellt werden kann, so bitte ich um feste Anstellung als Statist. Wenn nicht als Statist — um Anstellung als Bühnenarbeiter.“

Michail Bulgakow war buchstäblich am Ende. Nicht nur für seine früheren Theaterstücke sah es schlecht aus, sondern auch für die zukünftigen. Keine renommierte Bühne wollte mehr das Wagnis eingehen, Bulgakows — beim Publikum sehr beliebte — Dramen zu spielen, mit Ausnahme der dramatischen Fassung seines Romans Die weiße Garde. Man kann bezweifeln, daß Stalin — denn kein Geringerer störte die Mittagsruhe des Schriftstellers — ernsthaft an den Problemen eines nicht gespielten Dramatikers interessiert war. Der verstörte Bulgakow immerhin brachte keinen zusammenhängenden Satz zustande, aber Stalin versprach ihm ein Treffen, um über all seine Probleme zu reden. Sein Leben lang sollte Bulgakow auf einen zweiten Anruf warten, von Zweifeln geplagt, ob er nicht das Falsche gesagt haben könnte, und im Zorn auf sich selbst. Das ging sogar soweit, daß er an seiner Wahrnehmung zu zweifeln begann. „Was ist eigentlich geschehen? Das war doch keine Halluzination, als ich seine Worte hörte... Er wollte mich doch empfangen?“ schrieb er ein Jahr später an einen nahen Freund. Seine naive Hoffnung auf ein Treffen mit Stalin sollte sich nicht erfüllen, aber immerhin sorgte der mächtige Generalsekretär dafür, daß Bulgakow eine Stelle am Moskauer Künstlertheater antreten konnte.

Michail Bulgakows Leben könnte fast aus seiner Feder selbst stammen, als hätte der Teufel Volland aus seinem berühmten Roman Der Meister und Margarita die Fäden in der Hand gehabt. Der Moskauer Alltag nach der Oktoberrevolution bot ausreichend Stoff für einen Satiriker, aber Satire kann tödlich sein, wenn man in Literaturzeitschriften Sätze wie diesen findet: „Jeder Satiriker in der UdSSR verübt ein Attentat auf das sowjetische System.“ So ist Bulgakows Frage eher rhetorisch zu verstehen: „Bin ich also in der UdSSR überhaupt denkbar?“

In diesem Klima der akuten Bedrohung wird das Leben eines Schreibenden zum Balanceakt. Um so befremdlicher wirkt Bulgakows Hingabe an Stalin, die keineswegs nur von seiner Angst diktiert war. Vielmehr hat er sich geweigert, Stalin überhaupt mit dem Unterdrückungssystem von Bürokratie und Geheimpolizei in Verbindung zu bringen.

Über Stalins Rolle als Herr über Leben und Tod war sich Bulgakow aber durchaus bewußt. Wie beim absolutistischen Herrscher Ludwig XIV. aus seinem Roman Das Leben des Herrn Molire genügte ein Zucken der Augenbraue, ein demonstratives Gähnen des Allmächtigen, um ein Stück für immer vom Spielplan verschwinden zu lassen. Eine beifällige Bemerkung — manchmal reichte auch ein zufriedenes Grunzen — führte auf der anderen Seite dazu, daß man ein Stück jahrelang sehen konnte (wie Die Tage der Turbins von Bulgakow, das Stalin zwanzigmal besuchte und das über zehn Jahre in Moskau gespielt wurde). Wurde die dramatisierte Fassung von Molire kurzfristig abgesetzt, weil die Parallelen zu offenkundig waren? Sicher kann man im Molire, der übrigens schon ein überarbeiteter und somit abgeschwächter Entwurf war, zahlreiche Hinweise auf die Situation der Intellektuellen in der UdSSR finden. Die Ablehnung des Molire- Stückes 1936 stürzte Bulgakow in eine große Lebenskrise. Seine Frau Jelena kommentierte das Ereignis mit dem Zitat: „Ich male ein großes schwarzes Kreuz darauf“, eine Anspielung auf das Tagebuch des Chronisten Molieres, der mit einem dicken Kreuz den Tod des Meisters dokumentiert hatte. Für Bulgakow war der Molire jedenfalls ein letzter Versuch, sich als ernstzunehmender Dramatiker durchzusetzen.

Nachlesen kann man das Leben des Bürgers Bulgakow in einer von der Slawistin Julie Curtis ausgezeichnet zusammengestellten und kommentierten Tagebuch- und Briefsammlung mit dem Titel Manuskripte brennen nicht, einem Zitat aus Meister und Margarita. Erst 1989 konnten westliche Wissenschaftler Einsicht in sowjetische Archive nehmen. Man fand Bulgakows umfangreiche Korrespondenz mit Freunden und Verwandten, die Tagebuchaufzeichnungen seiner dritten Frau Jelena und seine Briefe an Stalin, die — mit Ausnahme des zitierten Telefonanrufs — nie beantwortet wurden. Dieses Archivmaterial, von dem Curtis nur einen Bruchteil verwendet hat, gibt exemplarisch Einblick in das Leben eines Intellekteuellen der zwanziger und dreißiger Jahre in der Sowjetunion.

Julie Curtis hat sich bei der Zusammenstellung der Biographie in Briefen und Tagebüchern auf die Zeit zwischen 1917, als der Arzt Bulgakow seinen ungeliebten Beruf an den Nagel hängte, und seinem frühen Tod 1940 konzentriert. In diesen dreiundzwanzig Jahren versuchte Bulgakow das Unmögliche: sich als „konservativer“ Schriftsteller in der Sowjetunion durchzusetzen. Als er seine ersten Feuilletons und Theaterstücke schrieb, ahnte er noch nicht, daß ihm ein Leben in Armut bevorstand, daß er das Land nie verlassen und von einer Verzweiflung in die nächste stürzen würde. Bei der Lektüre seiner mutlosen Briefe wird offenkundig, wie banal und falsch die Formel vom entsagenden Künstler ist, der Meisterwerke schafft. Wie banal das Leben ist, wenn das Geld für Miete und Essen fehlt. Bulgakow mußte seinen Bruder in Paris anbetteln, sich selbst verleugnen und erniedrigen. Über all diese Widrigkeiten schreibt er mit grimmigem Humor und nicht ohne Selbstironie. Die Ausweglosigkeit seiner Lebensumstände führte sogar zu der Idee, ein Stück über Stalin vorzuschlagen, eine äußerst delikate Angelegenheit in der Sowjetunion Ende der dreißiger Jahre. Immerhin handelte es sich um einen Auftrag des Moskauer „Künstlertheaters“, und Bulgakow betrachtete es auch als Möglichkeit, sein ambivalentes Verhältnis zu Stalin näher zu durchleuchten. Das Stück sollte Batum heißen, benannt nach einer Stadt am Schwarzen Meer, wo der junge Stalin eine Demonstration organisiert hatte. Als Bulgakow zusammen mit einigen Mitgliedern des Künstlertheaters eine Recherchereise nach Batum unternahm, erreichte ihn noch im Zug ein Telegramm, mit dem sein letzter dramtischer Versuch beendet wurde. Stalin wollte keine Aufführung des Stücks. „Vielleicht befriedigte Stalin lediglich seine Eitelkeit, indem er sich persönlich der Karriere bestimmter Moskauer Intellektueller annahm. Tatsächlich aber bedeuteten seine sehr gezielten Interventionen oft die Entscheidung zwischen zwei Extremen: Gefangenschaft und Tod oder Erfolg und Zugang zum Publikum“, schreibt Curtis in ihren kenntnisreichen und klugen Zwischenkommentaren. Unmittelbar nach seiner befohlenen Rückkehr erkrankte Bulgakow an einem vererbten Nierenleiden und starb ein halbes Jahr später. Drei Monate vor seinem Tod hatte er einem Freund seine Ahnungen mitgeteilt: „Wenn ich es Dir ehrlich und im Vertrauen sagen soll, so nagt in mir der Verdacht, daß ich zum Sterben nach Hause gekommen bin. ... Es ist qualvoll, langweilig und trivial. Bekanntlich gibt es nur eine einzige anständige Todesursache — Feuerwaffe, aber eine solche steht mir leider nicht zur Verfügung.“

Bis zuletzt arbeitete Bulgakow an seinem Roman Der Meister und Margarita, mit dem er 1928 begonnen hatte und der zahlreiche Hinweise auf die eigene Biographie enthält. Erst 25 Jahre nach seinem Tod wurden Fragmente des Romans in der Moskauer Literaturzeitschrift 'Moskwa‘ veröffentlicht. Die Zeitung — immerhin mit einer Auflage von 150.000 — war schon am Erscheinungstag vergriffen. Ein paar Wochen später trat das Buch seinen Siegeszug um die Welt an. Allerdings in einer unvollständigen Fassung, wie der deutsche Übersetzer Thomas Reschke in dem Materialienband Michail Bulgakow. Texte, Daten, Bilder berichtet. 1990 veröffentlichte der Luchterhand Verlag eine neu überarbeitete Version unter Berücksichtigung der zahlreichen Korrekturen, die Bulgakow noch auf dem Krankenbett seiner Frau Jelena Sergejewna diktiert hatte.

Da man im letzten Jahr den hundertsten Geburtstag des Autors zu würdigen hatte und die Archive nun für jedermann zugänglich waren, gibt es eine Reihe Neuerscheinungen. Leider kam es wegen fehlender Absprachen zu zahlreichen Überschneidungen, vor allem bei den Briefen. Und einige Ausgaben können getrost als lieblos bezeichnet werden, wie beispielsweise die des Luchterhand-Verlages aus der Reihe Texte, Daten, Bilder. Hier ein paar Rezensionen über Der Meister und Margarita aus den sechziger Jahren, dort ein völlig belangloses Testament, ein paar Artikel Bulgakows, ein paar Stimmen von Zeitzeugen, fertig ist ein Buch, das man Herausgeber und Lektor am liebsten um die Ohren hauen möchte. Allen Bulgakow-Fans, die wirklich etwas über den „Meister“ erfahren wollen, sei die Biographie in Briefen und Tagebüchern von Julie Curtis empfohlen.

Michail Bulgakow: Manuskripte brennen nicht. Eine Biographie in Briefen und Tagebüchern. Herausgegeben von Julie Curtis. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. S. Fischer, 381Seiten, 48DM.

Michail Bulgakow. Texte, Daten, Bilder. Herausgegeben von Thomas Reschke. Sammlung Luchterhand 972. 185Seiten, 18,80DM.

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. Roman. Luchterhand. 555 Seiten, 48DM.

Michail Bulgakow: Die Treppe ins Paradies. Erzählungen. Feuilletons. Tagebücher. Briefe. Herausgegeben von Ralf Schröder. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Verlag Volk und Welt. 614Seiten, 48DM.