Spätlese: Fremd bleiben / Ehenot / 'Lurchi', Folge 104, Kinderglück, Schneller lesen

Fremd bleiben

Ein Baby, eine Familie: für welchen Schriftsteller ist das schon ein Thema? Wer hat sich den Windeln anders gewidmet als mit zugehaltener Nase, wer die Sorgen einer Familie anders beschrieben als die einer Sozialkonstellation, welche die Mißhelligkeiten der Umgebung stärker erleidet, als sie zu reflektieren?

William Carlos Williams ist vermutlich der einzige (neben dem Journalisten Axel Hacke, auf den die Rede noch kommt). Der amerikanische Kinderarzt und Lyriker (Lyriker und Kinderarzt) schrieb sogenannte „realistische Romane“ — realistisch allerdings in einem anderen Sinne als Dreiser, Sinclair und Lewis. Denn Psychologie im damals revolutionären, heute sozialdemokratischen Sinne der solidarischen Einfühlung interessierte ihn nicht: Seine Figuren denken, fühlen und verwirklichen sich in der Handlung, und sie bedürfen dazu nicht des großen, des allwissenden Erzählers. Sie sind Personen vom ersten Satz an, den sie sprechen (und sie sprechen viel), sie haben geradezu bedenkenlos Charakter. Und so auch die Babys: nicht Objekte der Fürsorge und Rührung, sondern Subjekte der Wut, der ungemischten Empfindung, des reinen Egoismus, des Schreiens nach Beschäftigung, Zärtlichkeit und dem pragmatischen Nein. Von der ersten Sekunde an, in der das zweite kleine Mädchen von Joe und Gurlie auf die Welt kommt, ist es unübersehbar, unüberhörbar da, verstört seine Umgebung und sorgt dafür, daß sein Vater es mit Unsicherheit und Stolz, seine Mutter es mit Müdigkeit und Ärger betrachtet: „Noch ein Mädchen. Ach, ich will keine Mädchen. Bringen Sie es weg, und lassen Sie mich ausruhen.“

Eine Einwandererfamilie, deutsch und norwegisch. Emporkömmlinge, ehrgeizig und hart daran geworden. Besessen davon, es besser zu haben. Am Ende der Reihe der Arbeitenden, immerhin (also: arbeitende Arbeiter). Konfrontiert mit dieser Unabweisbarkeit von Babys, die Kinderärzte brauchen, Wärme, Luft und Liebe. Und Eltern haben, die ihre Wirklichkeit mit Träumen nicht vergleichen können, weil sie zum Träumen eigentlich nie Zeit hatten. (Aber dennoch spüren, daß sie es sich so nicht vorgestellt haben.) Die nicht zärtlich sind, nur kampfbereit. Die mit ihrem Gemisch aus kleinbürgerlichen Vorurteilen und entschlossenem Lebens- und Vergnügungswillen nicht besser und nicht schlechter sind als der sie umgebende sogenannte Schmelztiegel, aber nie Opfer des Erzählers und der Erzählung werden: Denn William Carlos Williams urteilt nicht, er maßt sich nicht einmal Verstehen an. Er sieht Subjekte um sich agieren, deren Willen er nicht versteht, und er tut das Einzige und Ehrlichste, was ihm bleibt: er zeichnet ihn auf.

„Als sie ihm die große Brustwarze in den kleinen Mund zwängten, gähnte das Baby. Sie warteten. Es schlief wieder. Sie versuchten es noch einmal. Es drehte den Kopf weg.“ Es gibt kein vergleichbares Projekt. Lakonie kann eine Rüsche sein (und ist es oft), Koketterie des Erzählers, um Wirkung zu erzielen (von Kälte, Souveränität, Ironie). Selten, fast nie ist sie das Eingeständnis des Nicht-weiter-Wissens und trotzdem Beschreiben-Wollens: Das ist sie bei Williams. Keine Stilfigur, sondern Bescheidenheit. (Die dazu führt, daß man wieder staunt: Es geht nicht alles auf in den bekannten Erklärungen. Es gibt ein Befremden, das bleibt. Heimholung wäre Verrat; an Joe, an Gurlie, dem Baby und Lottie. Fremde, die Fremde bleiben. Und gerade darum schwer zu vergessen. Welcher Romancier hat das bewußt gewagt?)

William Carlos Williams: White Mule. Erste Schritte in Amerika. 284 Seiten, geb., 34DM.

Außerdem: Gut im Rennen. 39,80DM.

Beide im Hanser Verlag in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Graf.

Ehenot

Gäbe es nicht Händel und seinesgleichen und gewisse Gebäude, von deren Zweck und Geschichte sich absehen läßt — man wäre nicht nur Rushdies wegen versucht, jegliche Religionsanstifterei und -ausübung zu verbieten. Die säkular unerreichbare Stumpfheit und Amnesie, welche den christlichen wie anderen Religionen noch immer gestattet, ihr gesellschaftliches Unwesen zu treiben, ist durch Aufklärung der Gläubigen nicht auszurotten, aber niemand läßt ja gerne alle Hoffnung fahren. So begrüßt man, nicht nur in diesem Sinne, die Wiederauflage von Thomas Hardys legendär gewordenem Roman Herzen im Aufruhr (Jude the Obscure), dem vermutlich bittersten Text gegen die christliche Ehe, der jemals geschrieben wurde.

Hardy hat in der BRD eine kurze, eher verhängnisvolle Belebung seines matten Klassikerglanzes durch Polanskis unglückliche Verfilmung der Tess of the d'Urbervilles erfahren, in der die schulmädchenjunge Nastassja Kinski weißgekleidet über Tauwiesen hüpfte und Milchmädchen spielte. 'Die Zeit‘, damals noch der Gesinnungsästhetik abhold, titelte die Kritik lakonisch und treffend mit der unschlagbaren Gulbranssen- Variation „Und ewig grasen die Kühe“, was vielleicht doch den einen oder anderen davon abhielt, es sich für einen langen Schlaf mit Hardy zu verderben. Ich habe den Film leider zur Hälfte gesehen und mich den Herzen in Aufruhr insofern mit Vorsicht genähert; es wäre nicht nötig gewesen.

Herzen in Aufruhr ist Entwicklungs- und Eheroman zugleich; kunstvoll, was hier auch bedeutet: unübersehbar konstruiert. Hardy selbst war Architekt und Kirchenrestaurator; trotz aller Ornamentik der Sprache verliert das lesende Auge die tragenden Balken der Handlung also nie aus dem Blick. Die Figuren sprechen ihre Bekenntnisse nicht ohne Pathos und Programm, aber die sozialkritische Leidenschaft des Autors ist zu gewaltig, als daß sie sich bei Grundsätzen lange aufhielte. Ihm, dem ideologischen Vorläufer der Bloomsburys (mit einer unvergleichlich schärferen Wahrnehmung der gesellschaftlichen und vor allem ökonomischen Determinanten der persönlichen Freiheit), ging es um den Nachweis, daß die kirchliche und juristische Kodifizierung der Liebe auf dieselbe tödlich wirkt. Die sexualfeindliche Moral des Christentums, über die der Protagonist des Romans hinauswächst, vernichtet seine Gefährtin, deren Geist, wie Hardy es unerbittlich bezeichnet, „sich verdunkelt“: Aus einer Geliebten, die sich aus Stolz und mit Freimut weigert, ihn zu heiraten, wird eine erloschene Abergläubige, eingegangen an den Sakramenten, die sie schließlich mit einem anderen vollzogen hat.

Ein Roman gegen die Ehe und, schlimmer noch zu ertragen für das ausgehende 19.Jahrhundert, für die Scheidung: also die einzig menschenwürdige Möglichkeit, einen Fehler zu korrigieren, der individuell begangen und gesellschaftlich vorgeschrieben wurde. Eine romantische und tragische Liebesgeschichte, in welcher der Autor ungescheut seinem Wissen Ausdruck gibt, daß sie mindestens fünfzig Jahre zu früh erscheint. Ein Roman, der das „Recht“ des Ehemanns, die Ehe zu „vollziehen“, in all seiner Brutalität und Barbarei beschreibt, der die Sexualität als natürlichen Ausdruck der Liebe begreift und zugleich die „wilde Ehe“ mittels der zärtlichsten Beziehung schildert, die mir in Prosa bekannt ist — der wurde natürlich nicht gern gesehen.

Herzen in Aufruhr hat die fünfundzwanzigjährige Karriere des Romanciers Hardy abrupt und mit einem Skandal beendet. Nach 1895 schrieb er Lyrik bis zu seinem Tod im Jahre 1928. Seine Leiche nahm die Kirche gern wieder in Anspruch: Er harrt in der Westminster Abbey der Heiligsprechung. In hoffentlich schon 36 Jahren wird man Herzen in Aufruhr in den Schulen lesen, beim geschlechtsreifen Publikum auf jenen Schauder hoffen, den heute die Hexenprozesse hervorrufen.

Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr (Jude the Obscure). Einwandfrei übersetzt von Eva Schumann. Verlag Rütten & Loening, Berlin. Mit Nachwort und Anmerkungen, geb., 565 Seiten, 44DM.

'Lurchi‘, Folge104

Eine äußerst bedenkliche Interpretation der Amerika-„Entdeckungs“- Geschichte gibt uns Lurchi in der 104. Folge seiner Abenteuer: Der Salamander schürft in Südamerika nach Gold und findet nach durchschlafener Nacht ein Schild an seinem Grabeloch, das lautet „Lurchi go home“. Auseinandersetzungen mit den einheimischen Indianern folgen, die alsbald fliegenden Speere wendet der Held souverän mit der Schuhsohle ab, gibt sich dann aber konsensbereit. „Die Friedenspfeife macht die Runde/ und für die Landbesitz-Urkunde/ gibt der Häuptling Gold heraus./ Das nimmt Lurchi mit nach Haus./ Alles kommt zum guten Ende/ und sie reichen sich die Hände./ Folglich schallt's auch jedem Loch/ „Salamander leben hoch!“

Abgesehen vom schiefen Endreim, beunruhigen die Ungereimtheiten der Story, die Lurchi aufgrund einer ominösen Erbschaft ein Schürf- und Landrecht im Indianergebiet zuschreibt, das er, harmlos und gesetzestreu nach Salamanderart, mit seinen Freunden wahrnimmt. Typisch auch für die gutwillige, aber offenbar überforderte Salamander-Redaktion, daß sie das selbstverständliche Recht der Indianer auf Salamanderfreien Lebensraum de jure verbrieft haben will — eine merkwürdige Kompromißbildung aus der Ideologie der Zärtlichkeit der Völker und dem Code Napoleon mit US-amerikanischer Beimischung im Schildertext, gleichsam eine Mahnung an die vielleicht eigene Vergangenheit. Wir raten zur Supervision.

Lurchis Abenteuer, 104. Folge. In allen Salamander-Schuhgeschäften. Acht Seiten, farbig, Fadenheftung und umsonst.

Kinderglück

In Zeiten großer Verstörung hat bekanntlich die Metaphysik Konjunktur, die von den Wissenschaften aufs Feuilleton übersetzt und in den Erziehungswissenschaften mit Verzögerung den Anwendungsbereich auf's Wehrlose findet. Pragmatiker verachten nicht unbedingt das Transzendente, aber sie wissen, wo es hingehört — oder lernen es an der eigenen Erschöpfung. Vermutlich so alt wie die nützliche Empfehlung an Archtitekten, in ihren Schöpfungen einmal das Wohnen zu probieren, ist der müde Ratschlag an die Strategen der Erziehung, es einmal selber zu versuchen: im Klang reaktionär, in der gesättigten Erfahrung doch wieder überzeugend. Man kann aus der Frage des Zu-Bett-Gehens allabendlich ein munter diskutiertes Thema machen (und sich sinnreich fragen, wie weit das Geschöpf, das da zu Bette und zur, vor allem der anderen, Ruhe soll, die eigenen Grenzen selbst und aus Entscheidung kennenlernen muß) und sich nach acht oder eben erst nach 88 Abenden desselben nimmermüden Verlaufs dabei ertappen, wie man Sätze sagt, die wie böse Erinnerungen in den Ohren klingen, zum Beispiel „Weil ich es so will!“ Oder man kann das Reflektieren gleich aufs Alter verschieben.

Axel Hacke, der Erziehungsberater der 'Süddeutschen Zeitung‘, hat nach geschätzt 18 Abenden die Diskussion aufs Alter verschoben. Für die Zwischenzeit versorgt er uns mit Nachrichten aus dem realen Reihenhaus; frohe Botschaften des Nichtwissens, die alle Zuckungen des Hirns abbilden, bevor es sich zur Ruh' begibt: „Wenn zum Beispiel Antje und ich den Max in einem rücksichtsvollen, intensiven Gespräch bitten, ein wenig Ordnung in seinem Zimmer zu schaffen, pflegt er wie ein vom Blitz gefälltes Bäumchen umzufallen, die Augen zu verdrehen und laut die Worte ,immer!‘ und ,muß‘ und ,ich!‘ und ,aufräumen!!!‘ hinauszuweinen. (Dann nagt der Zweifel: Sind wir so grausam zu einem kleinen Menschen? Ist Aufräumen nicht spießig und reaktionär? Welchen Schaden richten wir hier an, nie wieder gutzumachenden Schaden?)

Was die meisten Leute mit kleinen Kindern nicht wissen, das ist: Es ist alles vollkommen sinnlos. Lassen Sie ab vom Aufräumen! Geben Sie auf! Verzagen Sie! Jene Ursuppe aus Legosteinen, Puppenarmen, Bonbontüten, Bekleidungsfetzen, welche Kinderzimmerböden bedeckt, entsteht ohne das Zutun von Menschen. Es handelt sich vielmehr um einen kaum erforschten, vielleicht gar nicht erforschbaren Fortpflanzungsvorgang unbelebter Materie: Siku-Autos treiben es mit Überraschungs-Eiern, Batman-Figuren gebären Kinderpoststempel, Ventile von Kinderfahrrädern vereinigen sich mit Schwimmflügeln, aus dem Schoß einer Schildkrötpuppe kriechen Buntstifte, uralte, zerbissene Schnuller paaren sich mit den Resten geplatzter Luftballons. All das zerfällt bei einer Halbwertzeit von einer Stunde pro Teil in immer kleinere Plastikteilchen, die schließlich knöchelhoch im Raum liegen, durch die Zimmertür auf den Flur schwappen, sich über die Treppe ins Wohnzimmer ergießen und eines Tages die ganze Welt bedecken werden, unser aller Körper, auch die schreckensstarren Leiber jener, die von alledem nichts ahnten, die keine Kinder haben und aus unverständlichen Gründen auch keine haben wollen.“

Bis man alles besser weiß, folglich auch alles hinter sich hat, das ideale Geschenk für Geburt, Taufe und dergleichen und die bekömmlichste Lektüre für alle, die für Kinder Sorge tragen. Ebenfalls für die Zwischenwesen: wer, noch unerfahren, wissen will, wie kompliziert und unerwartet aufregend es sein kann, die Folgen einer harmlosen Anfrage zu erleben, die lautet: „Will einer von den Kurzen wohl mit Semmeln holen gehen?“, der lese Axel Hacke, und von dort an weiß er es — genau. Und wer wirklich keine kleinen Monster haben will, verliert die Freude an seiner Überzeugung: Die fröhliche Wissenschaft der Erziehung, die nicht klappt, ist eben nur für andere und die Menschen guter Hoffnung. Es ist Lohn genug, sagte Karl Kraus, der das immerhin genau wissen mußte, unter dem eigenen Rad zu liegen.

Axel Hacke: Der kleine Erziehungsberater. Antje Kunstmann Verlag, 114Seiten, Format für kleine Hände, gebunden, mit Zeichnungen von Marcus Herrenberger, 19,80DM.

Schneller lesen

Mir ist nicht bekannt, wieviele Kurse in Creative Writing die heute 46jährige Deborah Eisenberg besucht haben muß, um einen Stil zu entwickeln, der mittenmang zwischen Schneller Wohnen und Hemmingwoman, auf Novelle getrimmt, anzusiedeln ist. Vielleicht hat sie, wie die vielen KollegInnen der New Yorker Szene, weder Mühen noch Stunden gescheut, um in jenen literarischen Olymp aufzusteigen, auf dem sich die Young Urban Professionals des Schreibhandwerks bei einem Cocktail die nackte Hand reichen und vermutlich jene „Großartig!“s, „Geheimnisvoll!“s, „Geschliffen!“s zitieren, mit denen die Kritik, ihre Existenzberechtigung hilflos beschwörend, so bereitwillig um sich wirft. Vielleicht ist sie auch ein ernsthafter Charakter, dem man angeraten hat, jene poetische Begabung, die trotz aller Bemühungen um den Schliff hin und wieder noch durchscheint, dem Cocktailgenre zu opfern, damit, was schnell gelesen, auch schnell geschrieben ist. Sicher ist, daß die Lektüre ihrer Stories so folgenlos bleibt wie die eines Busfahrplans durch eine entfernte Stadt, weil ihre Themen (die Probleme einer verwirrten weißen Middle-Class mit dem Rassismus, dem Sex, den Drogen, der Erziehung) auf der Straße liegen und dort bleiben, nur vorübergehend erhoben zum Vorwand der Literatur, auf der Höhe ihrer Zeit zu sein.

„Aber habt ihr nicht manchmal das deutliche Gefühl, daß dem, was wir ,Leben‘ nennen, etwas zugrunde liegt, das — wie soll ich das ausdrücken? — daß da dieses Ding läuft, und entweder wir machen es, oder es macht sich womöglich selbst, und dann ist da dieses andere Ding, dem es ähnlich sieht oder ähnlich zu sein scheint, es ist wie das erste, nur aus der Vogelperspektive. Eine Reflexion, falls ihr wißt, was ich meine.“

Deborah Eisenberg: Eine lehrreiche Geschichte. Stories. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Hansen und Sabine Hübner. Rowohlt, 259 Seiten, geb., 38DM.