Eingesperrte Weltliteratur

„Unruhige Träume“: George Tabori dramatisierte Prosatexte von Franz Kafka  ■ Von Dieter Bandhauer

Kinder, die behinderte Menschen anstarren, werden von den Eltern zurechtgewiesen, daß sich dies nicht gehört. Im Theater aber ist alles anders. Da darf auch von den Erwachsenen gegafft werden — auf den hinkenden Richard und all die anderen Krüppel der Weltliteratur. Und in Hollywood ist es mittlerweile zur oscarpreisverdächtigen Selbstverständlichkeit geworden, einmal auch einen „ordentlich“ Behinderten darzustellen.

Für Tabori ist der Behinderte Metapher und offensichtlich eine theatergemäße Figur. „Wirklich Behinderte kommen in meinen Stücken immer wieder vor, ich weiß nicht, warum“, sagte er in einem Interview anläßlich der Uraufführung seines Stückes Weisman und Rotgesicht vor zwei Jahren im Burgtheater. Damals spielte Leslie Malton mit jener hollywoodesken Mischung aus Virtuosität und Penetranz eine Spastikerin.

Damit verschont uns Tabori in Unruhige Träume, seiner jüngsten Arbeit für das Burgtheater. Denn Peter Radtke imitiert keinen Behinderten, sondern ist einer. Und seine Figur ist mehr als ein Krüppel — nämlich Georg Samsa, das Ungeziefer aus Kafkas Verwandlung.

Ist das Hinstarren nun wieder verboten? Überschreitet das Theater seine Grenzen hin zu einer Authentizität, die peinlich ist? Von Peter Radtke jedenfalls kann man seinen Blick nicht lösen. Wie gebannt ist der Blick auf seine dünnen kurzen Beine gerichtet, die viel zu schwach sind, den kleinen, aber doch massiv wirkenden Oberkörper zu tragen. Er robbt auf dem Rücken, auf dem Bauch liegend über die Bühne, schleckt Wassertropfen vom Boden wie ein ekelhaftes Tier, und ist dann plötzlich nur noch ein Kopf, der den winzigen Körper unter sich vergessen läßt. Wie der Kopf sind auch seine Hände von „normalen“ Proportionen, also zu groß und somit prädestiniert, markante Zeichen zu setzen. Seine Stimme verwandelt ihn dann endgültig in ein Abstraktum. Derart entkommt der phänomenale Schauspieler Peter Radtke der verqueren Dialektik von Abscheu und Mitleid, mit der Behinderte „sonderbehandelt“ werden.

Und so gelingt es in dieser Aufführung auch nur ihm, den Ansprüchen, die Kafkas vielschichtige Literatur stellt, gerecht zu werden. Denn sein Ungeziefer ist keine theatralische Vereinfachung und Illustration einer Kafkaschen Denkfigur.

Alle anderen Darsteller jedenfalls erbringen in Taboris Liebeserklärung an Franz Kafka nicht das, was erhellende Erkenntnis genannt werden kann: Weder Tobias Langhoff, der das „Urteil“ seines Vaters an sich selbst vollstreckt, indem er seinen Kopf in einen Wasserkübel steckt, oder der als „Hungerkünstler“ seinen mageren Leib an einem über die Bühne gespannten Seil hängend zur Schau stellt, noch Günther Einbroth als gebeugter und doch übermächtiger Vater; weder Florentin Groll als der in eine slapstickartige Fechtszene geratende Zimmerherr, noch Therese Affolter, die, wie die anderen auch, zeigt, was sie kann. — Doch nicht ihr Handwerk ist das Hindernis, sondern das Theater selbst muß an Kafkas „finsteren und furchtbaren Institutionen“ (Borges) scheitern.

Taboris im Programmheft zitierte Einsicht, „was immer man über K. sagt, hat er selbst besser gesagt“, führte wohl zum Trugschluß, daß eine Dramatisierung von Kafkas Texten kein Kommentar sei — und weiter dazu, die Fähigkeit des Theaters, etwas sichtbar zu machen, sei gleichbedeutend mit der Möglichkeit der Literatur, daß sich in ihr etwas zeigt. Daß dieses Sich-Zeigen aber durch den Theatralisierungsvorgang sogar rückgängig gemacht werden kann, war die ernüchterndste Erkenntnis der Unruhigen Träume.

Auf der von Andreas Szalla als Boxring gestalteten Spielfläche (in dem vom Burgtheater ansonsten nur als Probebühne genutzten sogenannten Kasino) bekam man Figuren und Motive zu sehen, die an Kafka erinnerten; alles andere, und das ist viel, erinnerte an Tabori, der somit nicht nochmals mit sich selbst in Widerspruch geriet: „Wenn man über Kafka spricht, spricht man eher über sich selbst.“ Das hat er getan.

George Tabori: Unruhige Träume . Burgtheater (Kasino). Regie: George Tabori. Bühne: Andreas Szalla. Mit: Therese Affolter, Günter Einbrodt, Florentin Groll, David Hirsch, Tobias Langhoff, Peter Radtke. Nächste Aufführungen am: 6., 7., 8., 9., 13. und 14. Mai.