Bonn will von Krise nichts wissen

Mit Durchhalteparolen gegen das Chaos/ FDP-Chef Lambsdorff soll und will nicht zurücktreten  ■ Aus Bonn Andreas Zumach

Nach dem Chaos in Folge der überraschenden Rücktrittsankündigung von Außenminister Genschers sehen die führenden Politiker der Bonner Koalition keinen Anlaß für grundsätzliche Kurskorrekturen oder personelle Konsequenzen. „Weiter so“ heißt die Parole. Eine Große Koalition wird in Übereinstimmung mit SPD-Chef Engholm abgelehnt. Der gestärkt aus dem Debakel hervorgegangene Wirtschaftsminister und künftige Vizekanzler Möllemann drängt auf rigorose Sparmaßnahmen und tiefe Einschnitte in soziale Leistungen. Zu neuen Fragen, Widersprüchen und Spekulationen trug der Versuch des designierten Außenministers Kinkel bei, seine Rolle bei der Regelung der Genscher-Nachfolge darzustellen.

Trotz der öffentlich erhobenen Forderung aus mehreren FDP-Landesverbänden nach einem vorzeitigen Rücktritt Lambsdorffs will der Parteivorsitzende wie geplant erst beim Parteitag im Juni 1993 abtreten. Er sei „nicht dazu bereit“ die „politischen Voraussetzungen“ für eine Neuwahl bereits auf dem Programmparteitag im Oktober 1992 zu schaffen, erklärte Lambsdorff in Bonn. Möllemann habe ihn in dieser Absicht bestärkt. Auch Kinkel betonte, Lambsdorff sowie der ebenfalls für das Desaster bei der Benennung des neuen Außenministers verantwortlich gemachte Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Solms, müßten „jetzt um Gottes willen im Amt bleiben“. Über eine eigene Kandidatur für den Parteivorsitz will Kinkel „zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden“.

Bundeskanzler Kohl warf der FDP vor, die Koalition und „nicht zuletzt“ ihn selbst „beschädigt“ zu haben. Das von der Partei gebotene „Schauspiel“ sei „völlig unnötig“ gewesen. Aus der Sitzung der Koaltionsspitzen Mittwoch abend verlautete, Kohl habe den anwesenden FDP-Politikern deutlich gemacht, daß „das Faß nun voll“ sei. Zugleich wies der Kanzler in scharfer Form die Forderung des CSU-Politikers Stoiber zurück, das Amt des Vizekanzlers statt mit Möllemann mit Finanzminister Waigel zu besetzen. Möllemann wehrte sich gegen den in einem Bericht der 'Süddeutschen Zeitung‘ erweckten Eindruck, ein im März vom Wirtschaftsministerium verfaßtes vertrauliches Papier mit drastischen Sparvorschlägen enthalte Kritik an der Führungsschwäche des Kanzlers. In dem Papier heißt es, die für notwendig gehaltenen größeren Einsparungen „auch in politisch sensiblen Bereichen“ bestehender sozialer Leistungsgesetze seien nur unter der Voraussetzung einer „starken politischen Führung“ möglich. Unter anderem fordert Möllemann Kürzungen beim Bafög und Erziehungsgeld, bei den Sozialleistungen für Asylbewerber sowie bei der finanziellen Flankierung der geplanten Reform von § 218 StGB. Für den öffentlichen Dienst sei je nach Ausgang der Tarifverhandlungen ein Einstellungsstopp vorzunehmen.

Um „nach bislang bewußt geübter Zurückhaltung einmal deutlich zu machen“, was sich bei der Bestellung der Genscher-Nachfolge Anfang der Woche „aus meiner Sicht tatsächlich abgespielt hat“, lud Kinkel Donnerstag vormittag kurzfristig Bonner Journalisten ins Justizministerium ein. Mit dem wiederholten Hinweis, über in der Vergangenheit geführte „private Gepräche mit Genscher“ wolle er nichts sagen, deutete Kinkel an, daß er schon sehr frühzeitig von dessen Rücktrittsabsicht wußte. Zu dem in Bonn weitverbreiteten Verdacht, der Ablauf des FDP-internen Verfahrens zur Bestellung der Genschernachfolge sei ein abgekartetes Spiel gewesen, betrieben von Möllemann und möglicherweise mit Genschers Rückendeckung, erklärte Kinkel, dafür habe er zumindest keine Anhaltspunkte.

Siehe auch Bonn Apart auf Seite 6