„Jetzt holen wir uns einen Teil zurück“

■ Über zwei Dutzend Tote und Hunderte von Verletzten sind das Ergebnis der Rassenunruhen von Los Angeles: Lebensmittelläden gingen in Flammen auf, die — meist asiatischen — Ladeninhaber sind geflüchtet

Ausgangssperre, 6.000 Nationalgardisten Gewehr bei Fuß, reguläre Armeeeinheiten in Alarm. Gepanzerte Personentransporter mit Nationalgardisten rumpeln durch die Straßen, Kriegsbewaffnung und Munition sind ausgegeben. 1.000 Feuer brennen, ständig werden neue Läden in Brand gesteckt und geplündert. Es ist nicht der Putsch in irgendeinem der namenlosen Dritte-Welt-Länder, es ist auch nicht der neue Film von Arnold Schwarzenegger. Es ist Realität in Los Angeles, April 1992. 29 Menschen sind bislang umgekommen, Hunderte von Verletzten, Hunderte von Verhafteten und Tausende, die einfach noch einmal Glück gehabt haben — wie Kirk Mc Koy: „Alter, keine Fotos“, schreit ein betrunkener Mann den schwarzen Fotografen der 'Los Angeles Times‘ an. In der einen Hand hält der Bärtige die Flasche Whisky, in der anderen eine Beretta. Sechs Schüsse auf den fliehenden Fotografen. „Bin ich froh, daß er betrunken war“, so Mc Koy. „Drei Meter weg, sonst hätte er mich gar nicht verfehlen können.“

Mc Koy ist nicht der einzige Journalist, der an diesem Abend im Kugelhagel flüchtet. George Ramos, ein Vietnam-Veteran, kommentierte: „Ich dachte, der Krieg ist vorbei.“ Am Abend hatte ein schwarzer Jugendlicher in einem T-Shirt der Los Angeles Raiders ihm eine Kaliber-22-Flinte vor die Nase gehalten. Wie im schlechten Western sahen sie sich in die Augen. „Ich sagte nur, ich bin Reporter, ich tue nur meinen Job.“ Andere hatten weniger Glück: Zwei Motorradfahrer wurden von einer 15köpfigen Gruppe überfallen: Einer von ihnen erhielt Schüsse in Kopf und Rücken und starb.

Eugene wartet an der Straßenkreuzung auf die anderen Mitglieder seiner Jugendgang. Es ist eigentlich das Territorium einer rivalisierenden Bande: Klar habe er einige Bier aus dem Laden geklaut, klar habe er versucht, an der Tankstelle einzubrechen. „Ich hab keine Angst“, so der 21jährige. „Hier gehören wir jetzt alle zusammen. Hier gibt's keinen mehr, der noch vor irgendwas Angst haben müßte.“ Als ein Polizeiwagen um die Ecke biegt, brüllt Eugene. „Wir haben keine Angst mehr, wir haben Knarren wie sie.“ „Kommt schon, verprügelt mich“, ruft ein anderer schwarzer Jugendlicher den ausgestiegenen Cops zu. „Wollt ihr's nicht machen wie bei Rodney King?“ Erst als mehrere Wannen um die Ecke biegen, verschwinden die Jugendlichen.

Doch der Eindruck, hier seien nur schwarze Jugendliche unterwegs, täuscht. Die Zusammensetzung der Plünderer und Gewalttäter entspricht ziemlich genau der jeweiligen Nachbarschaft, beobachtete ein Reporter der 'Washington Post‘. Unter den Plünderern waren Weiße genauso wie Latinos und Asiaten. „Da waren Siebenjährige genauso dabei wie Sechzigjährige. Es waren ganz normale Bürger“, so die Hausfrau Dorothy. „Ich hab selbst dran gedacht, mitzumachen.“ Plünderer und Gaffer waren an Zahl der Polizei häufig so sehr überlegen, daß die Uniformierten beim Verladen der gestohlenden Ware nur noch zusehen konnten. Es hatte etwas von Karneval, so einer der Beobachter. Derweil surrten die gerade geklauten Videokameras.

Straßensperren gehören in LA zum Alltag

Szenenwechsel: Auf einem Parkplatz steigen die letzten Rauchschwaden von einem ehemaligen Lebensmittelladen auf. Eins von rund 1.500 Feuern in den vergangenen Tagen: „Ich bin Diabetikerin. Hier habe ich jahrelang meine Säfte und mein Gemüse gekauft. Und was mach' ich jetzt?“, so die 55jährige Ruby Galude. Der Bauarbeiter Baciliso Merino hat gerade erst im vergangenen Jahr seine Familie aus Mexiko nachgeholt. Jetzt hat er die Nacht auf dem Dach seines Häuschens verbracht. Das Leben in LA sei viel schrecklicher geworden, als er es sich je habe träumen lassen. Nicht nur heute. Schüsse aus vorbeifahrenden Autos gehören zum Alltag. Der Krach der Polizeihubschrauber, wenn sie nach Drogendealern suchen, auch. Straßensperren sind für die Bewohner der Nachbarschaft täglich Brot.

Die „Thrifty“ Drogeriekette hat diesmal zwei Läden verloren und elf weitere vorsorglich geschlossen. Die Schicksal des Viertels wie das der ganzen Gegend scheint besiegelt: „Die Leute werden nichts mehr zu essen haben, keine Tankstellen, keine Supermärkte mehr.“ Das Viertel wird verlassen werden, befürchtet Jacquie Wade. Ladenbesitzer bitten die Polizei, nicht einzugreifen, damit die Plünderer die Läden nicht abbrennen.

Doch der Verfall dieses Teils von Los Angeles hat nicht erst mit den Feuern, den Plünderungen und den Nationalgardisten gestern begonnen. Seit Anfang der achtziger Jahre haben die großen Arbeitgeber die Gegend verlassen: General Motors, Firestone und Goodyear. 35 Supermärkte und 20 Banken sind für die rund 2,5 Millionen Menschen in South Central Los Angeles übriggeblieben — vor den Unruhen. Der Haß kocht an allen Ecken und Enden über: Haß zwischen Schwarzen und Weißen, aber auch Haß zwischen den schwarzen und anderen Minderheiten. Selbst schwarze Geschäftsleute wie der Kneipier Frank Holoman zeigen sich verbittert. Das Urteil gegen die Polizisten war doch klar. „Das ist die Botschaft, die in die Welt hinausgehen wird: Wenn du ein schwarzer Mann oder eine schwarze Frau in Los Angeles bist, erwarte keine Gerechtigkeit.“

Koreaner und Mexikaner sind in den vergangenen Jahren in die früher hauptsächlich schwarzen Nachbarschaften nachgezogen. Sie haben Läden eröffnet. Die kleinen Läden um die Ecke liegen mit den Preisen meist ein Drittel über den großen abgewanderten Supermärkten. Zu viel für die sozial Schwachen in den Vierteln: Rassenprobleme waren die Folge. Einer der Plünderer, mit dem neuen Lautsprecher noch auf der Schulter, faßt den Haß der Schwarzen auf die neu hinzugezogenen asiatischen Geschäftsleute bündig zusammen: „Die Läden, die wir abgebrannt haben, haben sich noch nie um uns gekümmert.“ Kürzlich sei vielmehr eine junge Schwarze von einem koreanischen Ladenbesitzer erschossen worden. In der Tat hatte im Frühjahr 1991 eine koreanische Ladeninhaberin eine junge Schwarze beim Versuch, Orangen zu stehlen, erschossen. „Die nehmen nur hohe Preise und nehmen uns das Geld weg. Jetzt holen wir uns einen Teil zurück.“

Carl Dickerson, der Vorsitzende des Verbands Schwarzer Unternehmer in Los Angeles, versucht die Plünderungen und Zerstörungen zu erklären. Der Fall King sei von den Leuten als beispielhaft für ihre eigene Situation verstanden worden. „Die Schlußfolgerung lautet: das System behandelt uns schlecht“, so Dickerson. Am Donnerstag abend griffen die Unruhen auch auf die nobleren Vororte wie Hollywood sowie auf andere Städte wie San Francisco, Atlanta und Houston über. Beverly Hills, eine reiche Enklave mitten in Los Angeles, gleicht inzwischen einer Geisterstadt. Ladenbesitzer haben ihre teuren Boutiquen ausgeräumt und das Weite gesucht. Auch Long Beach und Santa Monica sind betroffen. Ganz im Sinne von Alex Zendejas und seines 17jährigen Freundes Sadi Dukes: „Mir wär's ja lieber, wenn's in Pasadena brennen würde“, so Dukes. „Die Leute sollten nicht ihre eigenen Viertel zerstören.“ ten