In die Fiktion der Medien

■ Der Bühnenbildner Gottfried Pilz — eine Schlüsselfigur des heutigen Musiktheaters. Ein Porträt von Frieder Reininghaus

Wir leben in einem Zeitalter der Bilderflut. Darauf reagiert jeder, der heute Kunst schafft. Vorsätzlich oder intuitiv. In diesem unablässigen Strom der reproduzierten und sich reproduzierenden Bilder agieren auch die Ausstatter der Theater, die sich vielfach aus der nachgeordneten Funktion, der bloß dienenden Rolle emanzipierten.

Gottfried Pilz ist vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur John Dew überregional bekannt geworden: Der Ring des Nibelungen, den das Duo Anfang der achtziger Jahre für die Vereinigten Bühnen von Krefeld und Mönchengladbach entwickelte, bedeutete den „Durchbruch“ aus tastenden Anfängen, häufig noch sehr inhomogenen und vom Widerstreit der Intentionen gezeichneten Produktionen. Es folgten sechs entwicklungsreiche Jahre, welche das Stadttheater Bielefeld unter Opernfreunden auch über die Landesgrenzen hinaus zu einem Begriff machten.

Dew und Pilz sorgen, gestützt auf den Dramaturgen Alexander Gruber, für einen höchst originellen Spielplan. Sie präsentierten eine erstaunliche Zahl von Stücken, die aus unterschiedlichen Gründen in Vergessenheit geraten waren, auch neue Opern aus verschiedenen Ecken der Erde. Sie versuchten sich in bemerkenswerter Weise an der Idee der Aktualisierung bekannter Opern und transponierten „Zeitstücke“ früherer Epochen ins Hier und Heute.

Auf produktive Weise machten Dew und Pilz auch andere Opernhäuser im Nordwesten der Bundesrepublik unsicher, bescherten Düsseldorf und Duisburg eine zweite Version ihrer ironisch verfremdeten Margarethe, in Dortmund eine (wegen Obszönität von der Absetzung bedrohte) Salome und in Wuppertal eine Zauberflöte — auf drei Leitern und drei Stühlen, doch mit phantastischen Kostümen in einer Circus-Manege. Der Weg dieser circensischen Inszenierung schritt nicht von nur Äußerlichem, der Oberfläche der „Erscheinungen“, zur Freisetzung des angeblich kernhaften Wesens, sondern umgekehrt: von dem in der Tiefe womöglich verborgenen Sinn (oder Unwesen) zur heiter-lichten Oberflächlichkeit, zum tatsächlich noch einmal komischen Singspiel.

Der Sprung aus dem Schatten Nordrhein-Westfalens an die im Licht der größeren öffentlichen Aufmerksamkeit glänzenden Häuser war für Dew und Pilz eine Frage der Zeit. Er kam. Mit den Hugenotten Giacomo Meyerbeers an der Deutschen Oper Berlin und an der Royal Opera Covent Garden in London, mit Wolfgang Rihms Hamletmaschine in Hamburg und Mozarts La Clemenza di Tito in Zürich. Nach der ganz in Blau getauchten Aufbereitung von Verdis Simone Boccanegra für die Oper Köln und der deutschen Erstaufführung von Heitor Villa-Lobos' Lorca-Vertonung Yerma in Bielefeld war das Kontingent der Gemeinsamkeit erschöpft.

Längst waren konzeptionelle Divergenzen zwischen Pilz und Dew deutlich, immer wieder aber als Reibungen zwischen Ausstattung und Inszenierung in den Aufführungen produktiv geworden. 1990 eskalierten die Widersprüche. Jeder mußte nun seinen eigenen Weg gehen.

Dew hielt die Stellung in Ostwestfalen. Pilz ließ sich den Wind freier Tätigkeit um die Nase pfeifen: Er wurde in Köln so erfolgreich wie in Berlin, in Leipzig wie in Frankfurt. Die Ausstattung einer Uraufführung bei den Wiener Festwochen steht bevor und sein Debüt als selbst auch regieführender Zeremonienmeister — Pilz bekam die Gesamtverantwortung für den in Leipzig geplanten Rameau-Zyklus übertragen. Neben Herbert Wernicke (und in klarer Unterscheidung zu den alternden Ausstattungsschönheiten der Herrmanns oder Glittenbergs) ist Gottfried Pilz einer der phantasiereichen und wichtigsten Operngestalter der Gegenwart: Von den zielgerichteten Mischungen hat er sich zu strengen Lösungen durchgearbeitet, von den Bildern fürs Theater zu integralen Theaterräumen.

Darüber hat er das Zeichnen und Malen, das meist im Zusammehang mit den Enwürfen für die Bühne steht, nicht vernachlässigt. Nachdem die Ausstellungen Reflexe und Aus-Grenzen in der Bielefelder Kunsthalle, in Wuppertal, Düsseldorf und (Ost-)Berlin von 1988 an Installationen und Theaterzutaten von Gottfried Pilz zeigten, Spiegelungen des sich selbst bespiegelnden Inszenierens von Bühnenräumen, präsentiert die Kunsthalle Kiel von Ende März bis Anfang Mai außer den dreidimensionalen Pilz-Objekten auch gut hundert Bilder und Graphiken: „Ich hab' schon immer einen guten Strich gehabt“, sagt Pilz und drückt die Kippe aus.

Späte Jungfrauen

„Ich bin“, sagt Gottfried Pilz nach einem großen Kaffee und einem tiefen Zug aus der nächsten Zigarette, „ich bin eine späte Jungfrau. Und werde es auch bleiben.“ Immerhin ist er fast fünfzig geworden, bis er sich die selbständige Lösung zugespitzter Musiktheaterprobleme zutraute und für höhere Aufgaben engagiert wurde. Er ist davon überzeugt, daß man eine Menge Erfahrung brauchen kann für dieses Gewerbe, das die Selbstzweifel ebenso nährt wie die Selbstgewißheiten. „Das ist die Essenz des Künstlers, daß er glaubt, nichts zu können“, meint er im unverwechselbaren Dialekt seiner österreichischen Heimat. Als Säugling kam er in den Luftschutzbunker, dann in den Luftkurort Mittersill im Oberen Salzachtal, wo Anton Webern im September 1945 von einem amerikanischen Soldaten erschossen wurde, weil er während der nächtlichen Ausgangssperre die Zigarette vorm Haus rauchte. (Pilz nimmt, indem er's erzählt, einen weiteren tiefen Zug.)

Tief beeindruckte ihn schon im Vorschulalter Max Reinhardts Jedermann-Inszenierung auf dem Salzburger Domplatz. Neben dem Festspielhaus ging Pilz zur Schule. Von frühen künstlerischen Betätigungen des Gottfried Pilz hielten seine eher praktisch denkenden Eltern wenig; nicht einmal das heiß ersehnte Kasperl-Theater schenkten sie ihm. Die Mutter starb, als er sechs war — „so habe ich viele Eltern gehabt.“ Die Wiege seiner Auffassung von Bühnenräumen ist, kein Zweifel, Salzburg: „Die Stadt ist sowieso ein einziges Theater — zehn Monate im Jahr eine leergeräumte Kulisse, und zwei Monate Krach in der Bude.“

Wo anders als bei den Salzburger Festspielen hätte der Weg zum Theater beginnen sollen? 1963 wurde Pilz dort Praktikant; war schon in Caspar Nehers Bühnenbildklasse in Wien und wurde nach dem Diplom dort Austattungsassistent an der Staatsoper. Drei Jahre arbeitete er im Team von Filippo Sanjust, illustrierte nebenbei Kinderbücher und zeichnete. 1975 wurde er am Stadttheater Augsburg als Bühnenbildner engagiert, 1979 in Kiel, 1983 in Bielefeld.

Er tendierte von jeher dazu, Stücke nicht zu illustrieren, nicht mit sich anbietenden Bildern zu unterfüttern. Er wühlt sich in die Stücke, schürft nach Essenzen; sucht, findet, sieht, erfindet adäquate optische Dimensionen zu dem, was den Menschen auf der Bühne widerfährt, was sie anrichten und nicht ausrichten können. Er richtet uralte Situationen, Grundmuster der Menschheitskonflikte aufs Neue ein, mit scharfem Blick für das Abgelegte, Vernutzte: Das ist in der Regel mehr als bloß modische Möblierung. Mehr als lediglich praktikable Landnahme für die Begierden, Notwendigkeiten, Obzessionen des Regisseurs.

Gottfried Pilz wird fast pathetisch, wenn es um die Frage nach der Endursache seiner Anstrengungen geht. Natürlich sei das Überleben wichtig, sagt er. „Aber das Entscheidende ist der Kampf um die Wahrheit.“ Und für diesen predigt er das genaue Hinschauen.

Glaubenskriege

Kennengelernt habe ich Pilz keineswegs als Propheten eindimensionaler Wahrheitssuche, obgleich schon der von ihm für den Niederrhein ausgestattete Ring den Willen zu einheitlichen Handschrift in der Fülle der sich abwechselnden Bilder verriet. Dieses Hauptwerk des 19. Jahrhunderts sollte unterm Aspekt der Naturaneignung und -zerstörung gesehen werden können. Die mit ihrem Geäst alles überspannende Weltesche des Rheingold-Anfangs, die bereits Stützen benötigt, starb zunehmend von Akt zu Akt ab. Zum Schluß der Götterdämmerung war nunmehr ein Krater übrig, wie ihn das herausge-

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sprengte Wurzelwerk hinterläßt oder ein Bombeneinschlag.

Gegen die langsam, aber unaufhaltsam sich verändernden Naturbilder wurden Gegenstände des Alltags zu antithetischen Leitmotiven erhoben, Dinge des gewöhnlichen Lebens in durchaus kritischer Absicht auf die Bühne befördert: die Neckermann-Wohnküche der Brünnhilde ebenso wie die Schöner-Wohnen- Sitzecke der Wotans oder die alternative Wohnküche Mimes mit Kräutergarten vor der Veranda, in der Jung- Siegfrid zu neudeutscher Kraft gelangte und seine antiautoritären Späße mit dem Ziehvater trieb. Das Outfit des Götterchefs glich dem eines Mafiabosses, der sich im ganz großen Waffengeschäft übernimmt.

Sein Enkel aus der inzestiösen Verbindung von Siegmund und Sieglinde ficht es besser aus: bei John Dew als Einzeltäter, der sich dem gepanzerten Ungetüm Fafner — dem Kommandanten auf dem Turm eines Kettenfahrzeugs sowjetischer Bauart — in Latzhose und mit einem Blumenstrauß nähert. Dieser Siegfried sprang auf den Panzer zum Freundschaftskuß und stieß unvermittelt zu mit dem in den Blumen verborgenen Nazi-Dolch, der aus den Feilspänen des „neidlichen Schwertes Nothung“ selbstgefertigten Waffe. Der Handstreich gegen den Hüter des (bereits mehrfach geraubten) Hortgoldes ereignete sich dank Pilz vor einer deutschen Mauer, wie sie die innere Landesgrenze und die von Demonstrationen bedrohten Atomkraftwerke abriegelte.

Das alles rührte 1985 an mehrere Tabus. Nicht minder die zwei Jahre später zu den Berliner Hugenotten gesetzten Mauer-Bilder: keine eindeutige Festlegung des Handlungsortes bei den zugemauerten Fassaden der Bernauer Straße; angespielt wurde zugleich auf das Berlin der dreißiger Jahre, das vom Bürgerkrieg gebeutelte Belfast, das in Aufruhr begriffene Paris und das von Randale heimgesuchte Kreuzberg. Verwiesen wurde von dem in Berlin lebenden Bühnenbildner auf die Absurdität der innerstädtischen Grenzanlagen, die wahrzunehmen sich die Deutschen hüben wie drüben im Laufe eines Viertel Jahrhunderts fast ganz abgewöhnt hatten.

Solche Bilder begehrten gegen das für „normal“ Erklärte auf. Sie transponierten in die Gegenwart, was den historischen Kunstwerken von ihren Urhebern eingeschrieben worden war: die Hinweise auf die mit grotesken, geschichtlich überholten Mitteln betriebene Beutesicherung, daß Bloßstellen von Intoleranz und Menschenverachtung in der Konkurrenz der Völker, Klassen, Religionen, Systeme. Wie kein anderes Theatermacherteam beharrten Dew & Pilz in den achtziger Jahren darauf, daß Glaubenskriege — entgegen anderslautenden Prognosen — nicht aus dem Repertoire des Schreckens veschwunden seien.

Lange zeigte Gottfried Pilz in der Zusammenarbeit mit John Dew keine Scheu vor unreinen Mischungen. Aus ihnen blitzte gerade so manche Erkenntnis, was am Historischen aktuell sei und was nurmehr Gegenstand distanzierter, kontemplativer oder lächelnder Betrachtung. Rüde Bildmischungen präsentierten die beiden in Bielefeld zu André Ernest Modest Grétrys Zemire et Azor, der Geschichte von der Schönen und dem tierischen Ungeheuer (das nun zum Popstar mutierte), und in Freiburg zu Jean-Philippe Rameaus Barockoper Hippolyte et Aricie, der Pilz ein großes Lichtspiel spendierte, ein Glanzstück aus dem Produkten der Leuchtröhrenindustrie.

Die international einsetzende Meyerbeer-Renaissance unterstützte das Theater Bielefeld sehr früh mit einer recht deutschen Version von Le prophét. Gottfried Pilz markierte die Festungs- und Kirchenbauten dieser Grand Opéra von 1849 mit einigen Neonröhren. Er trieb die Technik des Aussparens, des Weglassens vor allem von historischen Bildzitaten ein gutes Stück voran. Die Leuchtröhren ragten als Zeichen des eifernd erglühenden Glaubens zur Massentaufe des in dunkler Unruhe verharrenden Volkes zum finster bewölkten Himmel empor. Sie wiesen den Weg in jene fanatisierte Welt zwischen blutiger Realität und utopischem Traum, auf dem der Schankwirt Johann von Leyden zum politischen und religiösen Führer des Wiedertäufers erweckt und emporgespült wird.

Die Menge der Schwärmer war als Melange aus Bhagwan-Anhängern, Roter Garde und Nazi-Parteigängern gestaltet — deutsches Kleinbürgertum in historisch bewegten Stadien. Das hatte abzutreten — von einer Wand voll Parolen kam der zynische Pragmatismus der begüterten Stadtbürger zum Vorschein. Die lieferten Geld und Gold ab an die neuen Machthaber, nicht aber ihren Seelen. Als schließlich, nach dem Sieg konterrevolutionärer Truppen, der Blick auf die Hinterbühne freigegeben wurde, baumelten dort in lichter Höhe die Gehenkten: die letzte Garnitur der Opfer des Fortschritts. Durch die kraß gegeneinander gesetzten Anspielungen auf verschiedene Schichten der Geschichte pfiff der ehrliche Wind des bereits von Meyerbeer genährten Mißtrauens: daß alle Propheten eher falsche Propheten seien.

Tiefreichende Ader

Die Linie des abstrahierenden Aussparens auf der Bildebene hatte wesentlichen Anteil am überzeugenden Gelingen der Wiederaufführung von Rudi Stephans Oper Die ersten Menschen (1911) in Bielefeld und der vielleicht noch plausibleren Reaktivierung des ebenfalls kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Musikdrama Fennimore und Gerda von Frederick Delius. Unter einem Spiegelsegel in einem hermetisch geschlossenen Raum, der durch hängende Metallplatten gebildet wurde, die dann doch wie die Lamellen einer Jalousie sich drehen und so auch noch den gebrochenen Blick ins imaginäre Frie eröffnen konnten, zelebrierte man die vertrackte Liebesgeschichte: Musiktheater vom Vorabend des Tonfilms.

Aus dessen Frühzeit stammt das irre Treiben und die lichte Glut von Franz Schrekers Irrelohe. John Drew und Gottfried Pilz zeigten Cynthia Makris als das nackte Urbild des Weibes, das nach dem Schöpferwillen des Librettisten und nicht nur theoretisch anerkannt sein will, sondern auch — im Sinn von Luthers Sprache — erkannt werden möchte. Daher das wiederkehrende Symbol des Apfels, der weitergereicht, angebissen und schließlich gerieben wurde. Die Einwände gegen die bearbeitenden Eingriffe in Libretto und Partitur waren bei der Irrelohe-Produktion jedoch ebenso wenig von der Hand zu weisen wie bei der Bielefelder Wiederaufführung von Schrekers 1928 fertiggestellter Oper Der singende Teufel. Die in der frühen Neuzeit angesiedelte Geschichte des jungen Orgelbauers Amandus verhandelte die Rolle der technischen Intelligenz zu Zeiten heftiger Religions- und Klassenkonflikte.

Der Tüftler gerät zwischen die Fronten. Seine Geliebte bekennt sich zu den Ketzern und Aufrührern. Seine große Erfindung, eine kolossale Orgel mit magischer Wirkung auf die von Musik ansonsten unberührten Ohren, ist nur im Rahmen der etablierten, und keinesfalls als nur human erscheinenden Ordnung zu verwirklichen. Dew&Pilz promovierten Amandus zum modernen Wissenschaftler, die Klosterbruderschaft zum industriell-militärischen Komplex in der Entstehungszeit des Stückes. Die Ketzerversammlung wurde gegen eine kommunistische Parteiveranstaltung ausgetauscht; die Orgel gegen eine Stalinorgel, die Geschosse vom Kaliber V2 feuert. Eine solche allzu plane Übersetzung konnte nur um den Preis erheblischer Retuschen am Werk bis zum Schluß durchgehalten werden. Sie erwies der Sache Schrekers keinen guten Dienst: Gerade auch der singende Teufel steckt im Detail. Gegen eine Fülle von anderslautenden Einzelheiten aber kann sich auch eine im Großen und Ganzen womöglich plausible Überformung (durch einen „Regieeinfall“) nicht ins Recht setzen.

Der Weg nach innen

Zu den Schlüsselstücken in seiner künstlerischen Entwicklung rechnet Gottfried Pilz die Ausstattung der Strausschen Frau ohne Schatten in Bielfeld. Er holte sie ganz aus den fernöstlichen Bildern, in welche Hugo von Hofmannsthal sie und ihren Kontext gekleidet hatte: Klamotten und Mobiliar waren von gestern und heute (und durchaus westlich); westdeutsches Fensehprogramm begleitete die Szenen beider Ehen. Mit Chemiefacharbeiter Barak wurde ein kleines Licht der Angestelltenwelt ausstaffiert, mit Herrn Kaiser ein Oberschichtmacker, der seinen Jagdtrieb durch exzessiv ausgelebte Sexualität befriedigt. Die Angst vorm Kinderkriegen wurde in das Symbol der „eisernen Jungfrau“ gepreßt. Und als der Problempegel die Hochwassermarke erreicht hatte, schlug das Stück in eine Operette um: Parodiert fand sich das zweifelhafte Glück weiblicher „Selbstverwirklichung“ durch Schwangerschaft; das Glück der Neugeborenen fand Platz im Einkaufswagen; Glaube, Liebe, Hoffnung restituierten sich im Kreißsaal: Alle waren glücklich und zufrieden, und die Väter zeigten sich ganz vernarrt in den von ihnen mitinitiierten Nachwuchs, der sich als goldener Kinderregen vom Bühnenhimmel angekündigt hatte. Die Suche nach der künstlerischen Wahrheit war da auf eine tiefreichende Ader gestoßen.

Zu den Meriten des Theaters in Bielefeld in den achtziger Jahren gehört neben der Beschäftigung mit „dem Bild der Frau in der neueren Oper“ insbesondere die Wiederbelebung der politisch pointierten Stücke aus den zwanziger Jahren. Zum ersten Strang gehörte die schlicht- beschwörende Wiederaufführung von Jacques Fran¿ois Fromental Halévys Jüdin (1835) als Vorläuferin, die Stephan- und Delius-Reprise, die erwähnte Strauss-Aufbereitung und Schrekers Irrelohe, die Rückschau auf Erich Wolfgang Korngolds Wunder der Heliane (1927), die deutschen Erstaufführungen von Thea Musgraves Maria Stuart (1977), Die Ballade von Baby Doe des amerikanischen Komponisten Douglas Moore (1956) und Leonard Bernsteins Ruh und Frieden — allesamt markant ausgestattet von Gottfried Pilz. Ebenso die reaktivierten politischen Stücke, deren Reigen 1984 mit Max Brands Maschinist Hopkins (1929) eröffnet wurde. Hinter dem fröhlichen Unterhaltungsrummel, mit dem Paul Hindemiths Neues vom Tage (1929) zum Neuesten vom Tage acceleriert wurde, zeigte sich die Tendenz zum Lehrstück: Mit der Wirklichkeit als Übergang in die Fiktion der Medien. Hinter den schreienden Bildern: das Desaster des Subjekts.

In Anlehnung an Lucio Fantis Bühnenbild für Peter Steins Haarigen Affen, den die Berliner Schaubühen 1986 zeigte, konzipierte Gottfried Pilz 1987 eine brillante Neue Welt für Georg Antheils Transatlantik (1930). Da steigerte sich New York von Bild zu Hild in die eigene Zerstörung: Das Panorama der Wolkenkratzer wurde zunehmend brüchig, schließlich scheinen die Straßenschluchten förmlich in die Luft zu fliegen. Der Auflösung des Stadtbildes entsprachen die Vorgängen im Kopf der Hauptfigur Hector, der als käufliches Subjekt in den Präsidentenwahlkampf geschickt werden soll und diese Zumutung nicht aushält. Pilz hatte eine geniale Chiffre für die Visualisierung des inneren Vorgangs gefunden.

Mit ruhigeren Linien und großen Farbflächen stattete er eine Vorläuferin dieser Zeit-Opern aus, Arrigo Boitos Nero (begonnen 1862 und beim Tod Boitos 1918 noch immer in Arbeit): Da wurde der Kontrast zwischen dem vom römischen Kaiser einst inszenierten, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nachinszenierten und jetzt nach-nachinszenierten äußerlichen Spektakel zur Innenspannung des Seelendramas sinnfällig. Die Geschäftigkeit der modernene Reisediplomatie, den grotesken Gegensatz von amerikanisch kleinbürgerlicher Präsidentenfamilie und dem spätstalinistischen Feudalismus am Hofe Mao Tse- Tungs brachte Pilz bei der deutschen Erstaufführung von Johann Adams' Nixon in China (1987) mit der aus dem Dunkel auftauchenden und auf dem Platz des himmlischen Friedens landenden Boing auf den Punkt. Der Charme der Produktion resultierte wesentlich aus dem Spannungsverhältnis zwischen vorangeschrittener Abstraktion und den in Erinnerung gebrachten Realien der eben erst vergangenen Zeitgeschichte (Kostüme, Frisuren, Masken, Mobiliar). Nicht anders bei dem dankenswerterweise in Erinnerung gebrachten Sprung über den Schatten von Ernst Krenek (1924): Das junge Paar wagt da den Sprung durch die Folie, hinter der es zuvor nur als Schattenriß zu sehen war — und wurde dadurch lebendig.

Kindlich glücklich

Zunehmend setzte Gottfried Pilz seine auf das Ornamentale verzichtenden, abstrahierenden und für die schlichten Wahrheiten größere Räume schaffenden Bühnengestaltungen an die Stelle von dichter Bühnenarchitektur, vollgestellten Schauplätzen, überladener Kostümgestaltung (auf die das auf Turbulenz gerichtete Theatermachen nur im Sonderfall verzichten kann oder will). Grandios die ins schemenhafte verschwimmende Leere der großen Bühne des Kölner Schauspielhauses bei Günter Krämers Inszenierung des Beckett-Einakters Katastrophe (1983), bei dem die Zuschauer Zeugen (und insgeheim Komplizen) der theatralischen Hinrichtung des Protagonisten durch die Regiewillkür eines despotischen, durchgeknallten Regisseurs werden: Eindringlicher hätte sich der zugespitzte, fast wortlos noch eskalierende Konflikt wohl kaum kaum visualisieren lassen. In keinem Fall durch das versuchte Übertrumpfen der Filmmöglichkeiten.

Gegen die opponierte konsequent auch die von Gottfried Pilz für Günter Krämers Inszenierung von Goethes Stella geschaffene Bühne und das sich gleich anschließende, in vielem als Gegenstück konzipierte Das Ganze ein Stück von Friederike Roth: Bevor sich die Zuschauer auf die von Herbstlaub erfüllte Bühnenfläche begeben mußten, um den Roth-Sentenzen der Akteure an der Rampe und im Graben zu lauschen, konnten sie — noch in den gewohnten Sesseln — zu Goethes Dreiecksgeschichte die Passanten hinter dem Schauspielhaus wahrnehmen, von denen ab und zu sich einer die Nase an jenem Fenster mit doppelten Milchglas plattdrückte, um an der ihm unerreichbaren Kunst teilzuhaben. In Köln stattete Gottfried Pilz auch die deutsche Erstaufführung von York Höllers Oper Der Meister und Margarita aus — unter Einsatz von Lasertechnik für die kühl-klare Linienführung.

Zwischen solcher Referenz gegenüber der westlichen Welt, die sich einer ziemlich surrealistischen Moskauer Geschichte aus der Stalinzeit mit Rückgriff auf Pontius Pilatus und Christus bediente, und der am Berliner Theater des Westens noch aufgepopten Candide-Ausstattung lag eine halbe Ewigkeit.

Der Weg zum Herausprozessieren der inneren Probleme erwies sich als das Faszinierende. Schon 1965 hatte Pilz den Kopf modelliert, den Anja Silja an der Wiener Staatsoper als Salome auf dem silbernen Tablett serviert bekam (ihr wurde schlecht). In Frankfurt stattete er Ende 1991 die Silja als stolze Ortrud für Nikolas Lehnhoffs Lohengrin-Inszenierung aus: Sie hielt auf der breitgezogenen schrägen Treppe die Fäden der Intrige in der Hand. Dem Lohengrin, der wie ein verklemmter Corpsstudent aus Jena hereintrat, gesellte er einen Stutzflügel als Schwanersatz zu: Er kann ja sowieso alles, was die Liebe betrifft, nur durch die Blume der Musik singen.

Konsequenter Höhepunkt der Kunst des Weglassens und des Setzens stimmiger Symbole aus dem Geist der Moderne: die Lehnhoffsche Elektra-Inszenierung in Leipzig. Auf allen Vieren arbeitet sich Deborah Polaski, die wuchtige Interpretin der Titelrolle, durch den ihr von Richard Strauss vorgegebenen Tonraum und einen in jeder Hinsicht schräg stehenden Kubus, dem die Vorder- und Rückwand fehlt. Der Hohlkörper ist innen matt verspiegelt und außen mit Marmorimitat verkleidet — eine Erinnerung vielleicht an das Grab des von der Gattin und deren Buhlen, dem Vetter Ägist, gemeuchelten Agamemnon. Das Objekt bezieht sich — womöglich unbewußt — auf den travestierten Triumphbogen von La Defense, das architektonische Gegenstück zum Arc de Triomphe an den Champs- Elysées in der Pariser Vorstadt. Er verweist auf das gebrochene Verhältnis zu den Siegeszeichen: eine zentrale Chiffre in der Bühnenarchitektur des Gottfried Pilz.

Er begreift sich als „Bruder der Sängerinnen und Sänger“ und ist sich bewußt, daß seine Arbeiten „Funktion“ in einem Ganzen haben sollen und müssen. Und fast kindlich glücklich ist er, wenn es ihm gelingt, etwas zu zeigen, „was begrifflich nicht zu fassen ist“: das Innere, Hintergründige. „Ich sag' ja schon immer“, er nimmt dabei wieder einen tiefen Zug aus der Zigarette, „Hinschauen ist alles.“

Die Ausstellung Aus-Grenzen III mit Bildern, Installationen und Objekten von Gottfried Pilz ist noch bis zum 10. Mai in der Kunsthalle in Kiel zu sehen.