DEBATTE
: Die große Zwangsgemeinschaft

■ Bonn vor der Großen Koalition — ein Hauch von Osteuropa

Nehmen wir drei der rätselhaften Phänomene aus der ganzen Fülle, die Bonn seit Hans- Dietrich Genschers spektakulärer Rücktrittsankündigung zu bieten hat: Da ist — neben dem bevorstehenden Abschied selbst — die irritierende Art, in der Helmut Kohl den Verlust seines populären Außenministers und Wendefreundes vor der Bundespressekonferenz abhandelte — als „zweite Personalie des Tages“, nach der Präsentation des neuen CDU-Generalsekretärs. Da ist weiter das Erscheinungsbild der Freien Demokraten, das jetzt nur deshalb unentwegt-euphemistisch als Konfusion bezeichnet wird, weil im überschaubaren Bonn einfach die Begriffe fehlen, mit denen sich das Krisenmanagement der liberalen Geisterfahrer noch angemessen beschreiben ließe. Und dann ist da noch die SPD, der Tarnkappentanker unter den bundesdeutschen Parteien. Den dramatischen Niedergang der Regierung empfinden die Genossen offensichtlich als neuerliche Bestätigung ihrer Politik der kleinen Sprünge. Nach dem Motto: „So endet, wer zu hoch hinaus will“, ziehen sie ihre strategische Konsequenz: noch geräuschloser agieren.

Wenn in der Wissenschaft sich die Phänomene häufen, die im überkommenen Erkenntnissystem nicht mehr, oder nur noch unter Zuhilfenahme immer abstruserer Hilfskonstruktionen erklärlich sind, beginnt man sich nach neuen Hypothesen umzusehen. Möglicherweise steht ein Paradigmenwechsel ins Haus. Für die rätselhaften Bonner Ereignisse reicht die Hypothese, daß nicht nur für Baden-Württemberg, sondern auch für Bonn die Große Koalition schon programmiert sein könnte. Genscher hätte dann schlüssig reagiert, weil er seine ansehnliche Karriere nicht durch einen Rauswurf qua Regierungswechsel beenden mochte. Kohls stillose Nebenbei- Formulierung wäre demnach nur die unsentimentale Vorankündigung, daß ja auch die restlichen liberalen Minister schon bald zur Personalie werden. Auch der Wirbel beim kleineren Koalitionspartner macht plötzlich Sinn. In ihm steckt die Ahnung des bevorstehenden Statusverlustes. Für die SPD wiederum verbietet sich jeder angemessene Kommentar zum aktuellen Mißmanagement Kohls. Bis der Kanzler die prospektive Regierungspartei öffentlich zur Koalition bittet, muß man die Häme über die unsichtbarste Opposition seit Adenauers Zeiten einfach noch wegstecken.

Vorlauf

Bislang wollen die Verantwortlichen in Bonn die brauchbare Hypothese nicht bestätigen; statt dessen einschlägige Dementis. Die haben — trotz ihrer Häufung — etwas Glaubhaftes, weil seit dem Einheitsjahr 1990 mit wechselnder Intensität über eine bevorstehende, Große Koalition spekuliert wird. Vermieden wurde seinerzeit die unpopuläre Regierungsvariante für Krisenzeiten schon deshalb, weil sich die Union im Überschwang nationaler Zustimmung den Kraftakt auch ohne Mithilfe der Sozialdemokratie zutraute: die „Herstellung“ der Einheit als krisenfreier Selbstläufer zum Wohle aller. Seit im Frühjahr 1991 die erbarmungslose Demontage dieses Szenarios durch die Realität begann, wächst stetig die Wahrscheinlichkeit, daß doch bald kommen wird, was damals nicht in Frage kam.

Seither wird in Bonn zumindest verschämt über die große Kooperation nachgedacht. Doch die SPD kann sich nicht recht entscheiden, will sie noch weiter auf Legitimationsgewinn durch die gallopierende Regierungskrise hoffen oder doch pragmatisch verantwortungsbewußt den Karren mit aus dem Dreck ziehen. Kohl wiederum ziert sich aus verständlichen Gründen, mit dem Vollzug der Großen Koalition selbst das sinnfälligste Urteil über seine verflogenen Illusionen zu fällen.

Doch auch für solch schwierige Fälle findet sich in Bonn allemal eine (Übergangs-)Lösung: Das Spitzengespräch und die Arbeitsgruppe zur sachorientierten Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition. Hier könnte die SPD gern ihre Kompetenz und Unentbehrlichkeit demonstrieren und sich zugleich die Hintertür offenhalten, auch weiter die volle Regierungsverantwortung für eine Krise zu unterstreichen, an deren Beseitigung sie selbst mitzuarbeiten verspricht. Umgekehrt glaubt die amtierende Koalition, sich der Unterstützung durch die Opposition versichern zu können, mit deren — vorübergehender — Hilfe sich vielleicht schon bald wieder behaupten läßt, im Grunde habe man doch alles im Griff. Die avisierte „Kooperation in der Sache“ nimmt faktisch die Einwilligung in die Große Koalition vorweg — in der Hoffnung, sie am Ende doch nicht eingehen zu müssen. Die Erfolgsaussichten dieser Form konzertierter Aktion stehen eher schlecht.

1992 ist nicht 1966

Nein, wenn alle Handlungsspielräume aufgezehrt scheinen, wenn Neuwahlen sich für die beiden Großen schon deshalb verbieten, weil sie mit deren Abstrafung zugleich noch eine Horde quicker Rechtsradikaler ins Parlament bringen würden, wenn weder neue mehrheitsfähige Konstellationen noch alternative Krisenstrategien in Sicht sind und der Frustrationsdruck „draußen im Lande“ wächst, dann ist die große Zwangsgemeinschaft absehbar. Die Große Koalition hat die triste Alternativlosigkeit nicht erst zur Folge, sondern schon zur Voraussetzung. Die Opposition ist faktisch bereits abgeschafft, bevor dieser Umstand im großen Schulterschluß — nicht in der großen Arbeitsgruppe — sanktioniert wird.

Beendet wird dann die nur noch symbolisch-aufgeblähte Polarisierung zwischen Regierungspartei und Opposition. Im Verzicht auf diese (Hohl-)Form der Konkurrenz liegt der potentielle Handlungsspielraum der Großen Koalition. Weil die vermeintlichen oder tatsächlichen Fehler der „anderen Seite“ nicht mehr ohne weiteres ausgeschlachtet werden können und weil sich — bei gemeinsamer Haftung — die Chancen und Risiken für die nächste Wahl zwischen beiden gleichmäßig verteilen, ist ihr Spielraum größer als der jeder anderen Konstellation. Im Prinzip ist sie in der Lage, Maßnahmen durchzusetzen, die so unpopulär ausfallen, daß in der antipodischen Normalkonstellation weder SPD noch Union alleine bereit wären, das hohe Popularitätsrisiko zu tragen. Konkret: Sie muß die Suggestionen des Jahres 1990 zurücknehmen zugunsten einer Politik unter entgegengesetztem Motto: „Denen im Westen wird es schlechter, denen im Osten auf absehbare Zeit kaum besser gehen.“

Im besten Falle ist die Große Koalition der pragmatisch orientierte Zusammenschluß für die anstehenden Aufräumarbeiten, ein Vollzugsorgan aufgestauter Handlungszwänge. Das ist — angesichts der kathastrophalen Haushaltsperspektive — nicht wenig. Doch die erdrückende Regierungsmehrheit würde auch diesmal der Versuchung kaum wiederstehen, mit der ökonomisch-finanziellen Krisenstrategie auch noch das eine oder andere politische Wunschprojekt durchzuziehen. 1966 bis 1969 die Notstandsgesetzgebung, heute die ideenlos-restriktive Abschottung gegen die Völkerwanderung, als populistische Kompensation für die materiellen Einschnitte.

Die — parlamentarisch — unanfechtbare Durchsetzungsfähigkeit der Großen Koalition, aus der sie ihr Potential zur Krisenbewältigung gewinnt, markiert zugleich ihre entscheidende Schwäche. Der Preis für ihren Handlungsspielraum ist die tendenzielle Infragestellung der parlamentarischen Demokratie: Regierung ohne Kontrolle. Der prinzipielle Einwand, der sich an dieser Perspektive festmacht, ist kaum mit der Erfahrung der ersten Großen Koalition auszuräumen, die ja bekanntlich als parlamentarische Variante der formierten Gesellschaft Episode blieb und für den Aufbruch aus der Adenauer-Ära eher als Katalysator denn als Barriere fungierte.

Die optimistisch eingefärbte Parallelisierung 1966/1992 verdeckt die gravierende Differenz: Damals deutete sich die Zäsur der Adenauer-Ära gerade erst an, heute liegt die Zäsur 1989/90 bereits hinter uns. Die Große Koalition 1992 wäre nicht das letzte Hemmnis vor dem Durchbruch, sondern — im besten Fall — dessen Bewältigung. Daß sie ein pragmatisch-erfolgreiches Durchgangsstadium bliebe, nach dem dann erstmals die Chance des Neuen ausgelotet — und wahrgenommen werden könnte, die heute ganz vom Einheitsschlammassel verschluckt scheint, ist eine geradezu traumhafte Perspektive — mit hohem Risikopotential.

Reduzierte Demokratie

Klarer als die möglichen Chancen nach ihrem Ende lassen sich heute jedenfalls die Risiken der Großen Koalition benennen. Sie könnte angesichts der aktuellen Krisendimension selbst Epoche machen: reduzierte Demokratie auf Dauer. Dazu die grassierende Unlust an der Parteiendemokratie überhaupt, die schon derzeit ein Drittel der Wähler befallen hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde die Große Koalition auch den Rechtspopulismus weiter anheizen, der heute vor der zweiten Großen Koalition schon größere Erfolge feiert als seinerzeit während der ersten. Doch auch die Fortschreibung des Status quo bietet kaum Gewähr, die deprimierenden Tendenzen, die sich in den jüngsten Wahlentscheidungen ausdrücken, auch nur abzufedern. Darin liegt das Dilemma.

Ob sich Union und SPD — Rechtspopulismus und Demokratieverdruß im Nacken — am Ende wirklich auf den Schulterschluß zugunsten einer rigiden Krisenbewältigung einlassen, sei dahingestellt. Die Entscheidungssituation selbst — reduzierte Demokratie oder finanzieller Kollaps — der sich die Politik der neuen Bundesrepublik keine zwei Jahre nach dem Einheitstriumphalismus ausgesetzt sieht, erscheint denn auch als das eigentlich Bemerkenswerte. Über ihr liegt ein Hauch von Osteuropa. Matthias Geis