INTERVIEW
: „SPD-Einheitsfront mit Konservativen auf seiten der Arbeitgeber ist ein Skandal“

■ Michael Wendl, stellvertretender Bezirksvorsitzender der ÖTV in Bayern, über den letzten Tarifabschluß, die Lohndiktat-Politik Bonns und den Willensbildungsprozeß innerhalb der ÖTV

Noch am 3. Juni 1991 wollte der ÖTV-Hauptvorstand den damaligen Sekretär wegen dessen Kritik an der ÖTV-Tarifpolitik fristlos kündigen. Am 24. Juli 1991 kam es zum Vergleich vor dem Arbeitsgericht. Die ÖTV-Basis wählte das SPD-Mitglied Wendl dann im Januar 1992 gegen den Willen der ÖTV-Chefetage in Stuttgart zum zweiten Mann der Gewerkschaft in Bayern.

taz: Herr Wendl, Sie haben die vergangenen Tarifrunden Ihrer Gewerkschaft zum Teil harsch kritisiert. Ihr Urteil über den letzten Abschluß lautete: „tarifpolitisch reaktionär“. Jetzt streikt die ÖTV. Sind Sie nun zufrieden? Ist die jetzige Runde „fortschrittlich“?

Michael Wendl: Selbstverständlich bin ich mit dem Streik einverstanden. Aber wir hätten uns frühzeitiger auf ihn vorbereiten müssen. Die jetzige Lohnrunde ist weder „reaktionär“ noch „fortschrittlich“; es geht darum, daß die Menschen einen Ausgleich für die gestiegenen Preise bekommen. Der Tarifabschluß vom letzten Jahr enthält Änderungen bei der Arbeitszeitregelung, die den Arbeitgebern eine größere Flexibilisierung und sogar Verlängerung der Arbeitszeit ermöglicht. Das war tarifpolitisch reaktionär.

Die ÖTV ist mit der linearen Forderung von 9,5 Prozent in die Tarifrunde gegangen. Diejenigen, die wenig verdienen, bekommen wenig dazu, wer hat, dem wird gegeben. Ist die lineare Lohnforderung angesichts der sozialen Realität in diesem Lande nicht grundfalsch?

Es hat vor dem Beschluß eine intensive Diskussion innerhalb der ÖTV gegeben, und ich schätze, daß etwa ein Drittel der Teilnehmer am innergewerkschaftlichen Willensbildungsprozeß für eine Mindestbetragsforderung beteiligt gewesen sind. Die Mehrheit wollte eine lineare Erhöhung. Und zwar aus der Überlegung heraus, daß eine Prozentforderung leichter durchsetzbar ist. Hinzu kommt, daß bei einer Festbetragsforderung den Arbeitgebern von vorneherein klar gewesen wäre, daß wir mit einem Reallohnverzicht rechnen und davon nur die unteren Einkommensgruppen durch einen Sockelbetrag ausnehmen wollten.

Aber was ist dagegen einzuwenden, daß diejenigen, die zum Beispiel 8.000 Mark brutto verdienen, in dieser Situation real auf einen Teil ihres Lohnes verzichten?

Ein solcher Lohn spielt doch in unseren Tarifverträgen kaum eine Rolle. Die Spitzenvergütungsgruppe BATI reicht an die von Ihnen angesprochene Entlohnung zwar heran, doch mitgliedermäßig berührt uns das kaum.

Dennoch ist nicht einzusehen, wieso diese Gruppe ungleich mehr bekommen soll als die Beschäftigten, die es bitter nötig hätten. Zumal ja der ÖTV-Abschluß auch automatisch für die Beamten übernommen wird. Da streichen dann wieder die Spitzenbeamten den größten Batzen ein.

Daß der Gesetzgeber in der Regel den Abschluß übernimmt, haben wir doch nicht zu verantworten. Er könnte doch den höheren Dienst von der Erhöhung ausnehmen.

Sie sind Mitglied der SPD. Ihre Genossin Heide Simonis arbeitet auf der Arbeitgeberseite Hand in Hand mit dem Bonner Innenminister. Sie sagt, das Schlichter-Ergebnis sei nicht akzeptabel, weil im Westen gespart werden müsse — für die Transferleistungen in den Osten...

Ich glaube, daß Frau Simonis einfach nicht über die notwendige finanzpolitische und tarifpolitische Sachkenntnis verfügt. Von den Löhnen sind in unserem Gesellschaftssystem die Sozialeinkommen, also auch die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, abhängig. Steigen die Löhne, steigen einerseits die an die Bundesanstalt für Arbeit überwiesenen Beiträge und anderseits das Arbeitslosengeld. Nur über höhere Löhne können die Gewerkschaften die Arbeitgeber an der Finanzierung der sozialen Kosten der Einheit beteiligen. Diesen Zusammenhang hat Frau Simonis offenbar nicht begriffen. Die Einheitsfront der SPD-Politiker mit den Konservativen auf seiten der öffentlichen Arbeitgeber ist ein politischer Skandal erster Ordnung. Denn die Bundesregierung verfolgt mit ihrem Lohndiktat ganz bewußt das Ziel, den Gewerkschaften insgesamt eine Niederlage beizubringen. Die Sozialdemokraten haben offenbar die politische Dimension dieser Auseinandersetzung nicht begriffen.

Die öffentlichen Kassen sind nun mal leer, oder?

Sicher, aber sie können durch bestimmte politische Maßnahmen wieder gefüllt werden. Die Bruttolohn- und Gehaltssumme unserer Gesellschaft ist relativ zum Unternehmereinkommen rückläufig. Das drückt sich ja im Fall der Lohnquote für alle sichtbar aus. Durch den Fall der Lohnquote fällt auch die Finanzbasis für Sozialeinkommen. Eine aktive Beschäftigungspolitik spült auch zusätzliches Geld in die öffentlichen Kassen. Man muß sie nur wollen.

„Ich rechne mit einem längeren Streik“

Wäre denn für Sie ein Lohnverzicht der Besserverdienenden dann akzeptabel, wenn das eingesparte Kapital in einen Fonds ginge, aus dem gezielt Investitionen für jene getätigt werden könnten, die etwa im Osten jetzt massenweise ihre Jobs verlieren?

So was halte ich durchaus für eine sinnvolle Maßnahme. Aber ich glaube, daß dafür inzwischen die Zeit vertan ist. Ich selbst habe das vor gut einem Jahr in einem Leitantrag für die südbayrische SPD formuliert. Gegenwärtig sind wir in einer anderen Situation. Wir versuchen jetzt, den Reallohn zu erhalten, nachdem wir im letzten Jahr schon Reallohnverluste hatten. Ich meine, daß man die Mobilisierung von Mitteln für die neuen Bundesländer über Steuern erreichen muß. Der Lohnverzicht bringt auch insgesamt zuwenig, wenn man ihn einigermaßen sozialgerecht gestalten will. Auch besser verdienenden Angestellten — soviel gibt es davon im öffentlichen Dienst ohnehin nicht — kann ich nicht besonders viel nehmen. Hier in München haben angesichts der hohen Mieten inzwischen auch viele mittlere und höhere Angestellte erhebliche Probleme.

Die benötigten Mittel sind aber gewiß nicht nur durch Kürzungen von Rüstungsprogrammen oder Besteuerung der Reichen und Superreichen in diesem Lande zu gewinnen. Ohne einen Rückgriff auf die Masseneinkommen sind die 155 Milliarden, die allein in diesem Jahr in den Osten gehen, nicht zu mobilisieren.

Eine radikale Steuerreform, insbesondere beim Vermögenseinkommen, brächte schon eine Menge. 1990 betrugen die Steuer- und Sozialabgaben aus Arbeitseinkommen rund 563 Milliarden Mark. Die Steuern aus Unternehmertätigkeiten und Vermögen beliefen sich auf etwa 81 Milliarden. Diese Zahlen, die zeigen, in welchem Umfang die ArbeitnehmerInnen tatsächlich teilen, werden in der öffentlichen Diskussion überhaupt nicht wahrgenommen.

Die Zahlen zeigen aber auch, daß der Rückgriff auf die Wohlhabenden nicht hinreicht. Selbst wenn man deren Belastung verdoppelte, käme nicht genügend zusammen. Auf harte Steuergesetze würden die Kapitalbesitzer zudem mit sofortiger Kapitalflucht ins Ausland reagieren...

Ich sehe auch, daß man im Endeffekt die Masseneinkommen belasten muß. Aber das macht nur Sinn, wenn die Wirtschafts- und Industriepolitik in den neuen Bundesländern geändert wird. Sonst ist es ein sinnloses Opfer.

Der Streik geht jetzt in die zweite Woche. Je länger der Streik dauert, um so größer die Erwartungen bei den Mitgliedern. Könnte ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies ihrer Basis jetzt noch mit einem Abschluß in Höhe des 5,4-Prozent-Schlichtungsergebnisses kommen?

Bis gestern vielleicht noch, ab jetzt nicht mehr.

Erwarten Sie eine baldige Einigung?

Ich rechne mit einem längeren Streik. Das Gespräch führte Walter Jakobs