KOMMENTAR
: Der Stau als Denkanstoß

■ Der Streik und die Neuentdeckung der Stadt

Natürlich ist der Streik eine Behinderung der gewohnten Lebensabläufe. Und selbstverständlich werden davon — unbeabsichtigt — gerade jene Menschen am schwersten betroffen, für die sich auch zu normalen Zeiten die Stadt oftmals von ihrer harschen Seite zeigt: beispielsweise alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern ohne Auto oder die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesenen alten Menschen. Dennoch gilt, daß sich die Berliner schnell auf die veränderte Stadtlandschaft eingestellt haben. Für manchen ist es wie eine Neuentdeckung der Stadt — ihrer menschlichen wie geografischen Dimensionen. Die Stadt wird kleiner. Verwundert registrieren viele, die das Radl aus dem Keller geholt haben, daß der Weg zum Arbeitsplatz weit kürzer ist, als das normal-tägliche Gewürge mit dem Auto inklusive Parkplatzsuche vorgaukelt. Nicht wenige, die von der individuellsten Zwangsjacke der Industriegesellschaft nicht lassen konnten, müssen im Stau anerkennen, daß ohne öffentlichen Nahverkehr die »Freiheit« auf vier Rädern längst zu Ende wäre.

Der Stau wirkt offenbar auf vielen Ebenen als Denkanstoß. Der Mensch ist nicht mehr Geisel der Stadt. Nicht die gewohnte Piefigkeit und Ellbogen-Mentalität bestimmt die Stimmungslage der Stadt, sondern trotz der Streiknachrichten, der gesperrten Flughäfen und schmutzigen Straßen erfüllt eine fast mediterrane Gelassenheit die Straßen. Die Menschen begegnen sich mit ungewohnter Freundlichkeit, man schaut sich an und nicht aneinander vorbei. Wir entledigen uns des zivilisatorischen Prozesses der Zeit- Abrichtung: Keiner gequälten Entschuldigungen bedarf es mehr bei einer Verspätung; wozu auch, wenn die ganze Stadt unpünktlich ist und jeder erfährt, daß dennoch nichts zusammenbricht. Wartend erahnen wir, was Stadt sein könnte, und daß sie vor allem für die Menschen da zu sein hat. Brauchen wir mehr Stau auf den Straßen, um den Denkstau aufzulösen, der Stadtbewohner oft nur als Störfaktor der großen Maschine sieht? Gerd Nowakowski