: »Bei der ÖTV sitzen Sie in der 1. Reihe«
■ Gute Stimmung vor dem bestreikten Urban-Krankenhaus/ Notdienstvereinbarung sorgte dafür, daß die Patienten normal versorgt wurden/ Picknick vor der Tür/ »Chefärzte als Streikbrecher«
Kreuzberg. Der graue Neubau des Urbankrankenhauses wirkt heute eher wie eine bunte Unterhaltungsmeile. »Ach, die Stimmung ist ganz fantastisch«, freuen sich zwei Krankenschwestern aus der Streikleitung. Seit 5.30 Uhr schon stehen ÖTV- und DAG-GewerkschafterInnen in ihren roten und gelben Streikschürzen vor dem Eingang. Nach dem Frühstück auf dem Rasen, wo Decken und der Inhalt von Picknickkörben ausgebreitet werden, beginnt um 11 Uhr vor gut hundert ZuhörerInnen das Kulturprogramm. Auch ein paar PatientInnen nutzen die Chance, Abwechslung in den langweiligen Klinikaufenthalt zu bringen, und hören zu. Die Ostberliner Kabarettistin Heide Preussel singt freche Lieder aus den 20er Jahren, »ein schönes Zeichen angesichts der Spaltungsversuche zwischen Ost und West«, spielt ein Gewerkschafter auf gewisse Arbeitgeberparolen an. »Bei der ÖTV sitzen Sie in der ersten Reihe«, verkündet selbstbewußt eine Parole auf der Streikzeitung.
»Es läuft besser, als wir dachten, es gab nur ganz wenig Aggression«, kommentieren die Frauen von der Streikleitung hochzufrieden. »Die Patienten haben viel Verständnis, und von den Streikenden sind viele hierhergekommen, auch Unorganisierte, die sich angeschlossen haben, obwohl sie kein Streikgeld bekommen.« Selbst die nichtstreikenden Ärzte kommen mal für eine Stunde vor die Tür oder treten in den »Bleistiftstreik«, zu dem die Ärztegewerkschaft Marburger Bund aufgerufen hat: Sie stellen die normalen Verwaltungsschreibarbeiten ein.
Beim Pflegepersonal ist jedoch die Mehrheit im Ausstand — insgesamt rund 3.000 Menschen in den fünf bestreikten Kliniken. Allerdings, so erläutern die Frauen im Streiklokal, wurde mit der Klinikleitung ein Notdienst vereinbart, so daß alle Kranken nach dem Modell des Wochenenddienstes ganz normal versorgt werden: »Sie sollen auf keinen Fall Schaden nehmen.« Außerdem sind die Rettungsstellen, die Operationssäle, Intensivstationen, Kreißsäle, das Kriseninterventionszentrum und die geschlossene Abteilung der Psychiatrie vom Streik ausgenommen. Das Notdienst-Personal erhielt einen Sonderausweis.
Da aber habe sich schon der eine oder andere Chefarzt als »Streikbrecher« betätigt, illegal einen Ausweis ausgestellt oder »Patienten über die Rettungsstelle eingeschleust«, wie eine hereintretende Krankenschwester berichtet. Auch in der Streikzeitung wird über manches unrühmliche Verhalten berichtet: »Prof. H. auf Abwegen: Um Streikposten zu umgehen, öffnet der Chefarzt Geheimtüren zu seiner Abteilung im Haus 8. Späte Gemeindienstfantasien?« Oder: »Aggressiv und mit seinem Auto als Waffe erzwingt sich der Chefarzt der Chirurgie, Prof. K., Zugang zum Parkplatz. ‘Ich lasse mich von niemand stoppen‚, ruft er den Streikposten zu und nimmt die Gefährdung der Kollegen in Kauf.« Ute Scheub
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen