n-1. Denken, die Gegenausführung

Zwei Übersetzungen von Gilles Deleuze: „Differenz und Wiederholung“ und „Tausend Tableaus“  ■ Von Michaela Ott

Ich muß von zwei Büchern sprechen, die mir groß scheinen unter den großen... Lange werden sie über unseren Köpfen kreisen... Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein.“ So Michel Foucault 1970 in seiner Rezension der beiden Deleuzschen Bücher Difference et Répétition (1968) und Logique du sens (1969) in der Zeitschrift 'Critique‘. Im letzten Jahrhundert war zumindest in Deutschland vom Anbrechen dieses Deleuzschen Jahrhunderts wenig zu spüren: nachdem Deleuze/Guattari in den späten 70er Jahren mit Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie, dessen ethisches Anliegen in der „Einführung in ein nicht-faschistisches Leben“ (Foucault) besteht, zu Kultautoren geworden waren, wurden sie in den 80er Jahren mit dem „Irrationalismus“-Vorwurf belegt (sie hatten Schizophrenie und Kapitalismus als parallele Bewegungen beschrieben): außer den beiden kinotheoretischen BüchernZeitbild und Bewegungsbild und der Foucault-Monographie wurde von Deleuze nichts mehr ins Deutsche übersetzt.

In diesem Frühjahr nun erschienen unabhängig voneinander zwei seiner kompaktesten Philosophiewerke auf dem deutschen Buchmarkt: Differenz und Wiederholung bei Wilhelm Fink in einer Übersetzung von Joseph Vogl, Tausend Plateaus, die Fortsetzung des zusammen mit Guattari unternommenenKapitalismus-und-Schizophrenie- Projektes, in der Übersetzung von Gabriele Ricke und Ronald Voullié im Merve-Verlag.

Eine glückliche Konstellation läßt sich das nennen: diese der LeserIn eröffnete Möglichkeit, den denkerischen Bogen zwischen den zwölf Jahre (nach ihrem französischen Erscheinungsdatum) auseinanderliegenden Büchern zu spannen und sie gegeneinanderzuhalten nach dem Maß ihrer inneren Wiederholung und Differenz. Difference et Répétition, 1968 erschienen, noch akademisch trocken, ist von der Deleuzschen Manie des ungläubigen und bohrenden Nachfragens nachhaltig geprägt; die gründliche deutsche Übersetzung trägt dem mit Personen-, Sachregister und Seitenkonkordanz Rechnung, sie erhielt von der DVA-Stiftung 1988 den deutsch- französischen Übersetzungspreis. Und doch liegt in den beiden Titelbegriffen schon die ganze Sprengkraft des Mai 68 beschlossen, die dann in L'Anti-Oedipe (1972) ihren polemischen Ausdruck erlangt. Mille Plateaux, seinerseits nun bereits vor zwölf Jahren, 1980 erschienen: eine weitwinkelig anlegete und variabel geschichtete „Summa“, Kreuzungspunkt differenter Denklinien zweier Autoren bis in die Darstellungs- und Buchform hinein — zwischen den beiden Textkörpern erklingt vielfältige Resonanz.

Differenz und Wiederholung: für den Nietzsche-Rezipienten heißt Philosophieren zunächst, Philosophiegeschichte betreiben, ein Verfahren der Auswahl aus dem Tradierten zu finden, zu werten und umzuwerten — Philosophie als Genealogie und Kritik. Nicht zufällig hat Deleuze zahlreiche Monographien geschrieben: Über Kant, Hume, Nietzsche, Spinoza, Bergson, Leibniz, Kafka, Proust. Über Kant freilich nur, um ihn, wie er sagt, „ein Kind von hinten zu machen“... Dennoch entdeckte er sogar in ihm einen Vorläufer der Wunschrevolution. Besonders mit Nietzsche formiert sich seine Kritik an allen zentralistischen Denkmodellen: gefordert wird dagegen ein Denken, das Vielheit, Kraft, Werden und Zufall bejaht.

Differenz und Wiederholung ist in diesem Sinn eine Art Bühne, auf der Deleuze seine Vordenker auftreten läßt. Er bittet sie vorzutragen, was sie zu sagen haben (vorzugsweise zu dritt) zu Differenz und Wiederholung: Kierkegaard, Peguy, Nietzsche; Aristoteles, Platon, Duns Scotus. „Das Buch von Deleuze ist das wundersame Theater, in dem die ständig neuen Differenzen, die wir sind, die wir machen, zwischen denen wir herumirren, gespielt werden.“ Foucault nennt es das „Theater des Jetzt“... Manchen hält Deleuze zugute, etwas von der Differenz begriffen zu haben, sogar Platon, der verstand, daß es nicht darum geht, zu klären, was gut und schön ist, sondern wer schön ist, wer Teilhaber am Schönen ist, daß es um Teilnahme, Wettkampf mehr als um Klassifikation geht. Dennoch habe Platon die Differenz von vorneherein verraten, indem er das Trugbild, das Simulakrum aus seiner Philosophie verbannte, und ihm die Kopie, das Abbildmodell vorzog. Ein Denken der Differenz aber dürfe sich keine Bilder machen: „Es ist wie ein Vampir, hat kein Bild.“ In der Philosophie der Simulakra, in der „sich das Differente mittels der Differenz auf das Differente bezieht“, kulminiert Deleuzes Überzeugung von der Unmöglichkeit eines Anfangs, eines Ur-sprungs — alles ist Doppelung, Sprung, mittendrin.

Der Philosoph, dem Deleuze besondes den Kampf ansagt: Hegel. Seine Identitätslogik habe in ihrer Bewegung und Aufhebung des Gegensatz der Differenz vollends den Garaus gemacht. In Differenz und Wiederholung formuliert er daher das Programm eines „verallgemeinerten Antihegelianismus“ neben dem eines „inversen Platonismus“: in der Hegelschen „Philosophie der Repräsentation“ verschwinde „jene Differenz des Denkens mit dem Denken, jene Genitalität des Denkens, jener tiefe Riß im Ego, der es veranlaßt, nur dadurch zu denken, daß es seine eigene Passion und noch seinen eigenen Tod in der reinen und leeren Form der Zeit denkt“. Eher als mit Hegel hält er es daher mit Leibniz (er wird 1988 Le Pli. Leibniz et le Baroque schreiben): dessen Auffassung der Idee als Gesamtheit von Differentialverhältnissen und singulären Punkten baut er in Differenz und Wiederholung ein. Das Anliegen dieses Buches: eine reine Differenz als „Singularität in der Idee“ zu denken und eine komplexe, nicht mechanische Wiederholung, die „Neuheit und Freiheit“ wird. In Weiterführung von Nietzsche — und in einer im Anti-Ödipus gegen Freud und die Psychoanalyse geführten Polemik — wird der Begriff der Wiederholung ins Positive gekehrt. „Wir wiederholen nicht, weil wir verdrängen, sondern wir verdrängen, weil wir wiederholen.“ Wiederholen sei unumgänglich, weil überhaupt erst lebenskonstituitiv: vorgängig zu jeder Reflexion bilde sich Leben als „Folge passiver Synthesen“ („mein Kantianismus“), solchen der Gewohnheit, des Gedächtnisses, in Akten der Kontemplation: „Wir sind Kontemplationen, wir existieren nur kontemplierend... In jedem handelnden Ich gibt es kleine kontemplierende Iche... Wir glauben an unpersönliche Individuationen, präindividuelle Singularitäten, an den Glanz des man.“

Nach Deleuze sind wir folglich mehr als die von der Psychoanalyse behauptete Vater-Mutter-Kind-Triade: er weist, wie bekannt, Freuds mysthische Triangulation ebenso wie Lacans Unterscheidung von Symbolischem und Imaginärem zurück. Das Unbewußte — Axiom seines ganzen Denkens — sei nicht, wie Lacan es denkt, bildhaft oder sprachlich strukturiert, sondern maschinell, produktiv, iterativ und differentiell. In Tausend Plateaus wird er es als von Herden und Meuten durchzogen beschreiben, als Verkettung von Strömen, als Mannigfaltigkeit schlechthin.

Nietzsches Figur der ewigen Wiederkehr denkt er nicht als geschlossene Figur des Kreises: was wiederkehrt, ist das Sein des Werdens und damit der Differenz. „Wiederkehren ist das Sein, aber nur das Sein des Werdens... Aber dieses Denken ist keine theoretische Repräsentation mehr: Es vollzieht praktisch eine Selektion von Differenzen...“ Deleuze warnt davor, die Bejahung der Wiederkehr als Akt der Freiwilligkeit zu verstehen, sie setze vielmehr eine Kraft der Aggression frei, die jedes freiwillige Wiederholen zerstört: „Wiederholen meint nicht, ein 2. oder 3. Mal hinzuzufügen, sondern das erste Mal zur n-ten Potenz zu erheben“: „Wolle alles so, daß du seine ewige Wiederkehr willst“. Eine denkerische Tätigkeit, die Differenz will, muß sich Gewalt antun lassen: „Nur was zum Denken zwingt, bringt Differenz hervor.“ In Logique du sens bezeichnet er diese Haltung als „Ethik des Komödianten oder Mimen“: die eigene Maske erobern, lautet ihr Imperativ.

Gefordert wird eine Anerkennung der Kräfte, die sich der eigenen Person bemächtigen: der Denker bleibt nur die „Gegenausführung“, ihre gedankliche Doppelung. Das geht bis zur Bejahung der „notwendigen Zerstörungen“. Deleuzes Vorliebe für Scott F. Fitzgerald, Malcolm Lowry, ihre literarisierten Prozesse der Selbstzerstörung ist bekannt. Er widmet ihnen in Tausend Plateaus das Kapitel „Was ist passiert?“. Er huldigt ihnen als jenen „genitalen“ Denkern, die eben deswegen zur Differenz gelangen, weil sie von „jenem Riß im Ego“ ausgehen. „Selbstzerstörungen gegen den Todestrieb zu erfinden“, empfiehlt er in diesem Kapitel. Oder auch: eine Mikropolitik der molekularen Risse gegen die Linie der harten Segmentarität...

In Differenz und Wiederholung bezeichnet er diese Haltung auch als „Existenz der Dummheit“, wie sie etwa von den Beckettschen Figuren gelebt wird, die, störrisch beharrend auf dem eigenen Stumpfsinn, diesen durchtreiben ins Komische. Auch den Schriftstellern des „nouveau roman“ hält er zugute, den rohen und mechanischen Wiederholungen der Gewohnheit kleine Modifikationen entrissen zu haben: „Das Ich selbst ist Modifikation“.

Mit Tausend Plateaus (warum eigentlich Plateaus, gibt es nicht ausreichend Ebenen im Deutschen?) haben sich Metaphern vollends entanthropomorphisiert. Das Bild des Theaters ist Deleuze schon seit Anti- Ödipus zu mythosbezogen, zu expressiv. Er hat sich an die Luft begeben, sein Schauspieler ist zum Nomaden mutiert. Alles vollzieht sich nun in Begriffen von Räumlichkeit und Bewegung: von Schichten, Straten, Segmenten und Strömen, von Territorien und Deterritorialisierungen, von Kriegsmaschinen und Fluchtlinien, von Ebenen und Identitätszonen, die nach Langsamkeit und Schnelligkeit definiert sind, von glatten Räumen, die die Natur destratifieren, von Körpern, die sich nach Längen- und Breitengraden bestimmen, von Migranten, Umherwandernden, Umherziehenden. Das anti-ödipale Paradigma der Produktion („das Unbewußte ist eine Fabrik“) ist einer stärkeren Gewichtung von Werdensprozessen gewichen. Das Buch selbst versteht sich als Maschine, als organloser Körper, als Population von Intensitäten, mit beweglichen Dimensionen und Richtungen. „Wir schreiben dieses Buch wie ein Rhizom. Es ist aus Plateaus zusammengesetzt oder komponiert. Wir haben ihm eine zirkuläre Form gegeben, aber nur zum Spaß.“ Auf „tausend Ebenen“ wird so altes Denken sedimentisch abgetragen und von neuen abstrakten Maschinen durchquert: die Methode nennt sich Geophilosophie, der Philosoph Kartograph. Deleuze und Guattari entwerfen verschiedene „Konsistenzpläne“, ziehen Landkarten, stellen Verbindungen her nach dem Muster des Rhizoms: weniger das eine zum anderen addierend als nach der Methode der Substraktion, immer das Eine, die Einheit abziehend, n-1. Das Bild des Wurzelgeflechts wird über das abendländische Denkbild des Baumes, der binären Verzweigung und Hierarchisierung gelegt, um Vorgänge der Dezentrierung, der Vervielfältigung freizulegen. Die „Geologie der Moral“ weist die Dualismen von Gut und Böse ebenso wie solche von Inhalt und Form zurück. Naturwissenschaftliche Modelle werden gewichtet nach ihrem Potential an Deterritorialisierung: der biologische Isomorphismus eines Geoffroy St.Hilaire gegen Cuviers „euklidische Raumvorstellung“ für vielheitsbejahend erklärt. Der Linguistik wird eine „abstrakte Sprachmaschine“ unterzogen, die die Dichotomie von Signifikat und Signifikant hinter sich läßt. Auch dem Strukturalismus mit seinem „Mythos als Klassifikationsrahmen“ wird die Werdens-fähigkeit abgesprochen, den beliebten Kollektivvorstellungen der Soziologie die Mikro-Soziologie von Gabriel Tardieu gegenübergestellt. Das alles, um der klassischen „Dreistratigkeit“ zu entgehen: der Herrschaft von Organismus, Subjekt und Signifikant. Ihr wird eine Ethik entgegengehalten, die sich nun „Minoritärwerden“ oder auch „Intensiv-, Unsichtbar-, Kind- oder Tier-Werden“ nennt. Die Dekompositionspostulate dieser Selbstunterwanderung des Subjekts zur Meute: sein Gesicht auflösen, stammeln in der eigenen Sprache, schreiben wie eine Ratte, dem „Sein“ mit lauter „unds“ den Kampf ansagen, n-Geschlechter produzieren, substrahieren und variieren. Werden heißt immer auch „Frau- Werden“: Es „muß betont werden, daß alle Arten des Werdens mit dem Frau-Werden beginnen... Nicht nur, daß die Frau als molare Einheit Frau zu werden hat, damit auch der Mann es wird oder werden kann... Lieben können heißt nicht Mann oder Frau bleiben, sondern aus seinem Geschlecht die Partikel, Schnelligkeiten und Langsamkeiten, die Strömungen, die n-Geschlechter herauszulösen... Die Sexualität vollzieht sich durch das Frau-Werden des Mannes und das Tier-Werden des Menschlichen.“

Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. Wilhelm Fink Verlag München. Aus dem Französischen von Joseph Vogl,

400 Seiten, DM 58

derselbe und Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. (Anti-Ödipus 2) Merve Verlag Berlin. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, 720 S., geb., 98 DM.