BERLINS JUGENDZEITSCHRIFT 'BLICKPUNKT‘ MIT NEUEM OLYMPIAKONZEPT

Raus aus den Stadien

Berlin (taz) — Hundertmetersprints auf dem Kurfürstendamm, venezianische Gondeln auf Berlins Wasserstraßen, und OlympiateilnehmerInnen wohnen bei Berliner BürgerInnen. Drei Absurditäten, wenn jemand an Olympia 2000 in Berlin denkt. Drei Absurditäten? Sie umreißen ein Szenario, das in der neuesten Ausgabe des Berliner politischen Jugendmagazins 'Blickpunkt‘ veröffentlicht wird.

„Bringt Bewegung in die Spiele.“ Unter diesem Motto wollen die MitarbeiterInnen der Zeitschrift die festgefahrene Diskussion um die Olympiabewerbung Berlins mit ein paar Farbtupfern beleben. Leitgedanke dabei: „Raus aus den Stadien.“ Turnen in der Kreuzberger Hasenheide, Laufwettbewerbe auf kunststoffbelegten Straßen, Schwimmen in Berlins gereinigten Seen und Tennis auf den begrünten Dächern der Hochhäuser an der Leipziger Straße. Die SportlerInnen sollen Kontakt zur Bevölkerung und den Gästen Berlins herstellen. Geplant ist sogar, daß sie während ihres Aufenthaltes in der Hauptstadt bei den BerlinerInnen wohnen. Alles das soll stattfinden in einer vom individuellen Autoverkehr befreiten Stadt.

Ausgerüstet mit solchen Ideen machten sich die jungen JournalistInnen auf den Weg und befragten Bürger, Sportler, Funktionäre, Politiker und Sponsoren nach Möglichkeiten, solcherlei Vorstellungen umzusetzen. Beim Computerhersteller Comodore, Gesellschafter der Berlin 2000 Marketing GmbH, konnte man sich sehr wohl vorstellen, Ideen wie einen 100-Meter-Lauf auf dem Kurfürstendamm finanziell zu unterstützen. Ein weiterer Gesellschafter, die Berliner Bank, will zwar die Spiele für Berlin, Experimente schließt man dort allerdings aus.

Das Olympische Dorf könnte ganz gestrichen werden. Das dafür und für den nach ihren Vorstellungen nicht notwendigen Aus- und Neubau von Hallen und Stadien eingesparte Geld soll in ein Selbsthilfe-Modernisierungs- und Instandsetzungsprojekt für Altbauten gesteckt werden. Einzige Bedingung: Während der Olympischen Spiele müßten OlympiateilnehmerInnen aufgenommen werden. Eine Umfrage unter BerlinerInnen ergab eine positive Resonanz. Selbst Olympiagegner waren unter diesen Bedingungen bereit, Sportler bei sich aufzunehmen. Eine Umfrage unter Berliner SpitzensportlerInnen brachte ein differenziertes Bild. Pavel Olszewski, moderner Fünfkämpfer, der seine Fahrkarte für Barcelona bereits in der Tasche hat, hält die Idee für gut, sieht aber „große Probleme bei der Umsetzung“. Turmspringer Holger Schlepps hält von der Idee eine ganze Menge, fürchtet sich allerdings etwas vor den Sprachbarrieren. Ganz anders sehen das Seglerin Nicola Birkner und Dreispringer Jens Volkmann. Beide meinen, daß man unter den Sportlern eine Menge Kontakte hat, daß da die Völkerverständigung recht gut läuft. Andere Stellen wie die Berliner Senatsbauverwaltung oder die für die Finanzierung eines Olympischen Dorfes zuständige Wohnungsbaukreditanstalt hüllen sich zu diesem Thema erwartungsgemäß in Schweigen und verweisen auf die restriktiven Vorgaben des Internationalen Olympischen Komitees.

Olympia auf Plätzen, in Seen, auf Straßen und in Parkanlagen fordert natürlich die autofreie Stadt und trotzdem mobile Zuschauer. Neben den zu nutzenden S-, U- und Straßenbahnen, Spreewaldkähnen und Gondeln träumen die Blickpunkte gemeinsam mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC) von einem kostenlosen Fahrrad-Verleihdienst während der Olympiade. 3.000 alte Fahrräder könnten die ADFCler dafür in Berlin auftreiben. Dazu Sponsoren, die die notwendigen Entrostungs- und Reparaturarbeiten finanzieren. Fahrraddepots könnten überall in der Stadt errichtet werden. Über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollen Leute eingestellt werden, die sowohl die Fahrräder bewachen als auch kleinere Reparaturen ausführen können.

Ein Befürworter der Olympiabewerbung Berlins ist übrigens Signore Tagliapietra aus Venedig. Er ist Vizepräsident der Gondolieri-Vereinigung „Cooperativa Ducale“. Berlin wäre für ihn ein geeigneter Austragungsort, weil man so die Spiele von 1936 vergessen oder wenigstens die Mißtöne abschwächen könnte. Für ihn wäre es eine nachträgliche Weltfeier zum Fall der Berliner Mauer und eine Art, sich dem vereinten Deutschland zu stellen. Peter Huth