Die neue Plutonium-Weltunordnung

■ Fast fünfhundert Tonnen Plutonium werden im Jahre 2000 die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages unterhöhlen/ Schwarzmarkt als Kriegsrisiko/ Atomenergiebehörde: die Trennung zwischen ziviler und militärischer Nutzung ist überholt

Von M.Schneider und G.Blume

„Da wir die Kraft zur totalen Zerstörung besitzen“, befand der Philosoph Karl Jaspers im Februar 1958, „aber bisher nicht die Macht, diese Kraft mit berechnender Sicherheit zu beherrschen, fragt jeder: Was soll geschehen? Wo liegt die Lösung?“ Nach Ende des Kalten Krieges stellen sich ähnlich weitreichende Fragen. Während die erste Phase des atomaren Zeitalters noch vor der gigantischen technischen Herausforderung der Produktion von einigen Kilogramm Plutonium stand, die in Nagasaki ihre erste schreckliche Verwendung fanden, hat sich das Problem heute ins Gegenteil verkehrt: Was soll mit annähernd zweihundert Tonnen Plutonium geschehen, die sich in zehntausenden amerikanischen und sowjetischen Atomwaffen befinden?

Abstrus, aber wahr: zur gleichen Zeit fahren die Praktiker der „zivilen“ Plutoniumwirtschaft ungerührt mit der weiteren Anhäufung des nach dem Gott der griechischen Unterwelt Pluto benannten, von Menschenhand geschaffenen Teufelszeugs fort. In der alten Ordnung, als der Atomkrieg der Supermächte möglich schien, mochte das vielen zweitrangig erscheinen. Doch spätestens mit dem Eintritt in die neue „Weltunordnung“ (Willy Brandt) gewinnt das Plutonium-Problem sicherheits- und umweltpolitisch alptraumhafte Dimensionen: Denn wer nur wenige Kilogramm des nunmehr überschüssig vorhandenen Materials in die Hand bekommt, kann die Atombombe bauen. Die weltweite Aufregung um Atomprogramme im Irak und Nordkorea liefert vermutlich nur einen Vorgeschmack auf zukünftige Plutonium-Krisen. Gleichwohl verrät die Nervosität in den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen, daß nun sogar die Sicherheitspolitiker der alten Atommächte mit Karl Jaspers zweifeln, ob sie noch die Macht besitzen, die Kontrolle über mehere hundert Tonnen Plutonium zu behalten.

„Überprüfung der Plutonium-Politik“

Die Wiener Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) kennt das Dilemma besser als irgendeine andere Institution. Trotzdem ist der Alarm der internationalen Atomwächter höchst ungewöhnlich. „Es ist höchste Zeit“, meldete sich William J. Dircks, stellvertretender Generaldirektor der Behörde, Mitte April in Tokio zu Wort, „daß wir unsere Plutonium-Politik einer dringend notwendigen Überprüfung unterziehen.“ Seit Beginn der siebziger Jahre ist es Aufgabe der Atombehörde in Wien, den weltweiten Umlauf von Plutonium zu überwachen und dabei sicherzustellen, daß Nicht- Atomwaffenstaaten, die dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten sind, keinen militärischen Nutzen aus dem Zeug ziehen.

Die IAEO ist dabei per Eigendefinition eine der Atomindustrie nahestehende, in mancher Hinsicht mit ihr geradezu identische Organisation. In Aritkel2 ihrer Statuten heißt es: „Die Agentur soll bestrebt sein, den Beitrag der Atomenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand weltweit zu beschleunigen und auszubauen.“ Viele IAEO-Mitarbeiter stammen denn auch aus der Industrie und kehren nach einer Stippvisite in Wien wieder dorthin zurück.

Um so größer mußte die Überraschung sein, als Vize-Chef Dircks in Tokio eine radikale Neuinterpretation der globalen Atombedrohung empfahl. In seiner Ansprache vor dem Jahrestreffen der japanischen Atomindustriellen in Yokohama ließ Dircks keinen Zweifel am Zusammenhang zwischen zivilem und militärischem Nuklearrisiko: „Der Überschuß an isoliertem spaltbaren Plutonium aus den zivilen Atomprogrammen“, warnte Dircks, „stellt ein wesentliches weltweites sicherheitspolitisches Problem dar.“ Dabei mußte der IAEO-Chef selbst zugeben, daß seine Feststellung ein bislang unangetastetes Tabu der internationalen Atomindustrie brach: „Aus vielerlei Gründen“, gestand Dircks, „war es unsere lange Zeit aufrecht erhaltene Politik, militärisches und ziviles Nuklearmaterial voneinander zu trennen. Wie dem auch sei, wir sollten heute das Material aus militärischen Vorräten als einen Faktor betrachten, der den nuklearen Brennstoffkreislauf beeinflußt.“

Das Ende eines Tabus

Seit Jahrzehnten hatten sich Politiker und Generäle daran gewöhnt, die militärische Atomgefahr an der Zahl nuklearer Sprengköpfe zu messen. Lediglich Atomkraftgegner und Friedensbewegte wiesen darauf hin, daß auch die zivile Nutzung der Atomkraft, insbesondere durch die Abtrennung von waffentauglichem Plutonium bei der Wiederaufarbeitung von abgebranntem Atombrennstoff, ein militärisches Risiko birgt. Dem wiederum hielten die Regierungen entgegen, daß der Atomwaffensperrvertrag eine klare Trennung zwischen ziviler und militärischer Nutzung des Plutoniums sicherstelle. Nichts geringeres zog der IAEO-Vize-Chef Dircks nun in Zweifel.

Zweierlei Gründe bewirkten die Umkehr der Wiener Behörde. Zum einen ist durch die geplante Abrüstung der nuklearen Sprengköpfe in der GUS und den USA mit einem neuen Plutonium-Reservoir von je bis zu hundert Tonnen zu rechnen. Zum anderen aber wird die Plutonium-Produktion in der zivilen Atomindustrie westlicher Industriestaaten unvermindert fortgesetzt. Allein zwischen 1990 und der Jahrhundertwende erwartet die IAEO einen zusätzlichen Überschuß an „zivilem Plutonium“ von 110 Tonnen. Den heute bereits angehäuften Überschuß der westlichen Atomindustrie schätzt die Wiener Behörde auf 150 Tonnen. Zusammengerechnet handelt es sich also um knapp fünfhundert Tonnen Plutonium im Jahre 2000, von denen die IAEO jedes einzelne Gramm in den nächsten zehn Jahren sorgsam kontrollieren müßte. Eine schier unmöglich anmutende Aufgabe. Zudem sieht die Wiener Atombehörde ihren ureigenen Auftrag in Gefahr. Denn die Statuten der IAEO verpflichten das Amt, die Herstellung von „überflüssigem spaltbaren Material zu vermeiden“.

Große Probleme mit der Entsorgung

Bislang rechtfertigt die Atomindustrie ihr Vorgehen mit dem zukünftigen Nutzen des Plutoniums. Demgegenüber betonte Dircks in Tokio, daß der aktuelle Bedarf an Plutonium, so wie es derzeit in kleinen Mengen als Zusatzbrennstoff in üblichen Atomreaktoren (MOX-Verfahren) oder für Schnellbrüter zu Forschungszwecken benutzt wird, mit dem vorhandenen Plutonium aus den zu vernichtenden Sprengköpfen der großen Nuklearmächte bereits mehr als abgedeckt sei. In Yokohama rechnete Dircks vor, daß die weitere Produktion von Plutonium, wie sie derzeit durch die Wiederaufarbeitung verbrauchter Uranbrennstäbe in Frankreich, England und Japan weiterhin geplant und durchgeführt wird, nur neue Überschüsse des hochgiftigen Stoffes anhäufen würde. Plutonium produzierende Schnellbrüter sind längst out. Dagegen haben Branchenexperten im Laufe der vergangenen Monate die abenteuerlichsten Ideen für neue Plutonium-Entsorgungsstrategien vorgebracht. Sie schlugen vor, Plutonium in Schnellbrennerreaktoren einzusetzen, die eine möglichst große Menge an spaltbarem Plutonium in nichtspaltbare Isotope zerlegen könnten. Sowjetische Atomiker sprachen sich dafür aus, das Supergift mit Hilfe einer Atomexplosion in geschmolzenes Gestein einzubetten. Andere befürworteten wiederum, das Plutonium einfach ins Weltall zu schießen. Viele Kritiker sehen keine andere Möglichkeit, als das Plutonium mit anderen hochradioaktiven Abfällen gemischt zu verglasen, um es anschließend unter internationaler Kontrolle zu lagern. Die am meisten propagierte Option der Atomindustrie aber ist es, das Plutonium in sogenannten Mischoxidbrennelementen (MOX) beim herkömmlichen Reaktorbetrieb zu verwenden. Auch Bundesumweltminister Töpfer nannte den MOX-Einsatz „eine zentrale Aufgabe zur Lösung dieser Probleme“.

Doch die vermeintliche Lösung erweist sich bei näherem Hinsehen als Irreführung. Für MOX-Brennstoff bezahlt der französische Elektrizitätskonzern EdF rund fünfmal so viel wie für den üblichen Uranbrennstoff. Außerdem wird die Gesamtmenge des Plutoniums durch den MOX-Einsatz gar nicht oder nur unwesentlich verringert. Laut Harold Feiveson von der Vereinigung Amerikanischer Wissenschaftler ist MOX selbst dann noch doppelt so teuer, wenn Plutonium als „gratis“ anzusehen sei. Darüber hinaus fehlt es kurzfristig an ausreichenden Fertigungskapazitäten für den Plutoniumbrennstoff. Selbst längerfristig ist die Anzahl der für das Verfahren geeigneten Reaktoren beschränkt. Grundsätzlich gibt es für Stromversorger heute keinerlei Anlaß, auf einen Brennstoff umzusteigen, der nicht nur erheblich teurer ist, sondern aus physikalischen und sicherheitstechnischen Gründen den Reaktorfahrern das Leben erschwert. „Der Einsatz von Plutonium als Reaktorbrennstoff“, warnt deshalb Damon Moglan, Verantwortlicher für Plutonium-Probleme beim internationalen Greenpeace-Verband, „ist ökonomisch und technisch nicht zu rechtfertigen. Die Benutzung von diesem Waffenstoff in Reaktoren ist, als ob man einem Auto TNT in den Tank schüttet.“ Doch während den Experten noch die Köpfe rauchen, wie sich für das überschüssige Plutonium eine Bleibe finden läßt, eröffnete die französische Atomfirma COGEMA Anfang April mit großem Pomp ihre Plutonium-Fabrik UP3 in La Hague. Größter Kunde der COGEMA soll auch in Zukunft die japanische Atomindustrie bleiben, die ab dem Herbst dieses Jahres das in Frankreich aufgearbeitete Plutonium über die Weltmeere zurück nach Nippon transportieren will.

Noch ist unklar, ob die Welt schweigend zuschaut, wie Japan zum Plutonium-Riesen heranwächst, während auch andere Staaten, darunter die Bundesrepublik, mit den andauernden Wiederaufarbeitungsprogrammen immer mehr des zerstörerischen Materials anhäufen. Nordkorea nahm bereits das japanische Plutonium-Programm zum Anlaß, ein Kontrollabkommen mit der IAEO zu verzögern und damit eigene Pläne für die Plutonium-Herstellung implizit zu rechtfertigen.

Konsequenzen für die atomare Abrüstung

So könnte sich das Plutonium-Problem langfristig als größter Stolperstein auf dem Weg zur nuklearen Abrüstung entpuppen. Staaten wie Japan und die Bundesrepublik, die schon im Jahr 2000 über zig Tonnen spaltbaren Plutoniums verfügen könnten und zweifelsohne auch die entsprechende Waffentechnologie aufbieten können, schaffen neue Rechtfertigungen für den Atomwaffenbestand anderer Länder. Thomas Cochran, Leiter der Atomabteilung vom Rohstoff-Verteidigungsrat (NRDC), ein privater Thinktank in den USA, vermutet, daß Japans Plutonium-Geschäft „die Bemühungen der USA und der sowjetischen Staaten, ihr Waffenmaterial zu vernichten, stark einschränken wird“. Die gleiche Gefahr erkannte im November letzten Jahres eine internationale Plutonium-Konferenz in Tokio: „Pläne für die andauernde Plutonium-Herstellung“, befanden die Atomwissenschaftler aus neun Ländern, „werden unvermeidlich zur Weiterverbreitung von Atomwaffen führen.“

Derweil sorgen sich westliche und östliche Regierungen gleichermaßen über die Entstehung eines Plutonium-Schwarzmarkts. „Wir können ziemlich sicher sein“, warnte Frank Barnaby, der ehemalige Leiter des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI, „mit der zunehmenden Wiederaufarbeitung von Plutonium eine Blüte des Schwarzmarkts zu erleben. Wenn nämlich ein Überschuß besteht, wird der Preis fallen, und subnationale Gruppen — von Regierungen ganz abgesehen — können sich das (Plutonium, d.R.) eher leisten.“ Kaum hatten die Regierungen das Problem begriffen, bestätigte ein Uran-Raub in Bayern dessen Dringlichkeit. Am 5.März verhaftete die Polizei in Augsburg zwei deutschstämmige Russen, die in einem Autokofferraum ein Kilogramm angereichertes Uran verstaut hatten, das sie für 1,9 Millionen Mark verkaufen wollten. Der Augsburger Fall, analysierte die amerikanische Fachzeitschrift 'Nuclear Fuel‘, gab „Wasser auf die Mühlen von Gerüchten über die internationale Schmuggelei mit Uran, wenngleich Beweise für ein organisiertes Geschäft bislang noch fehlen“. Die Folgen eines illegalen Plutonium-Handels wären unabsehbar: Schon der Golfkrieg zeigte die kriegsauslösende Gefahr, die aus geheimen Atomwaffenprogrammen resultiert.

Die Lobbyisten bleiben uneinsichtig

Die Plutonium-Lobby will solche Risiken nicht wahrhaben. Unbekümmert schlug das verantwortliche japanische Ministerium im Februar vor, den Sinn von Schnellbrütern zukünftig darin zu suchen, daß hier Plutonium aus russischen oder amerikanischen Waffen verwertet werden könne. Der russische Präsident Boris Jelzin hat daraufhin erwogen, Plutonium auf kommerziellem Weg an Japan zu verkaufen. Währenddessen bezeichneten amerikanische Regierungsbeamte den Verbrauch von US- Waffen-Plutonium in japanischen Schnellbrütern als ernstzunehmende Möglichkeit. So sucht die internationale Atomwirtschaft verzweifelt nach neue Rechtfertigungen für ihre veralteten Energiekonzepte und stürzt die Welt immer tiefer in die Plutonium-Krise.

Letztendlich aber werden sich auch die Befürworter der Plutonium- Industrie nicht der Erkenntnis Frank von Hippels entziehen können. Der Professor der Princeton University und Initiator einer internationalen Arbeitsgruppe zum Thema Plutonium-Kontrolle und -verbleib resümiert: „Es ist meine grundsätzliche Auffassung, daß abgetrenntes Plutonium — sowohl militärisches als auch ziviles — nun als gefährlicher Abfall betrachtet werden muß.“