■ AUS POLNISCHER SICHT: Abhängigkeit und Ungleichzeitigkeit
Wir hängen alle voneinander ab. Nicht nur die Ossis von den Wessis, sondern auch umgekehrt. Genauso die Schwarzen von den weißen Richtern, die Weißen von dem schwarzen Zorn. Nicht nur die Hungernden und Kranken in Afrika von den Wohl- und Unwohltätern im Norden, sondern auch die letzteren von der Gnade der Armen: Das Schicksal unserer Kinder hängt in letzter Instanz am Bestand oder Nichtbestand des Regenwaldes. Scheinbar verstehen das alle. Jedoch diesem Wissen folgen nicht die nötigen Taten.
Die Westdeutschen versuchen zu verteilen, als wären sie in der Bundesrepublik der siebziger Jahre. Der Bundeskanzler tut, als wäre er der beliebteste Politiker im Lande. Die Südslawen veranstalten ein nationalistisches Inferno, als wären sie zwar in Europa, aber im Europa des neunzehnten Jahrhunderts. Das krasseste Beispiel des Anachronismus ist jedoch meine liebe Heimat. Während es das wichtigste Ziel aller vernünftigen Politik in der Welt ist, das Bevölkerungswachstum zu stoppen, verbieten die allmächtigen katholischen Mullahs selbst Präservative, streichen aus den Schulprogrammen die Sexualerziehung. Statt dessen müssen die Schüler mehrmals am Tage gemeinsam beten. Das alles wahrscheinlich, um sich dann über die Abtreibung empören zu können. Ohne ein Abtreibungsgesetz durchzupeitschen, erreichten die polnischen Fundamentalisten, daß seit einigen Tagen Abtreibung in Polen fast unmöglich ist: Auf einem sehr fragwürdigen Weg hat die polnische Ärtzekammer einen »Kodex der ärztlichen Ethik« verabschiedet, der seit Anfang Mai in Kraft getreten ist. Wie gesagt: Ein Gesetz ist das nicht. Einem Arzt jedoch, der sich diesem Recht nicht unterordnet, droht ein Verfahren vor einem Ärztekollegium.
Proteste und Mahnungen der mäßigen Politiker und Publizisten helfen nicht, die Kirche und die regierende national-christliche Partei haben aus dem weiblichen Körper ein Schlachtfeld der übelsten Politik gemacht. Ähnlich wie in den USA sind die Priester und ihre fanatischen Anhänger zu allem fähig, um ihre Ziele zu erreichen. Neulich hat ein pro-life-Priester einen Fötus öffentlich auf die Straße getragen und behauptet, das sei ein Opfer der Abtreibung. Nach seiner Verhaftung stellte sich heraus, daß es eine zwanzigwöchige Fehlgeburt war.
Das Ziel heiligt also die Mittel, und das, obwohl man sehr gut weiß, daß die Opfer einer restriktiven Abtreibungsregelung immer die ärmsten Frauen sind. Sie können sich eine Abtreibung nur leisten, wenn sie legal ist und in einer öffentlichen Klinik durchgeführt werden kann. Doch das interessiert die scheinheiligen alten Herren im polnischen Sejm nicht, die das Leid Tausender armer Frauen in Kauf nehmen, um ihr prinzipielles Ziel (das der ethischen Ebene angehört) auf der politischen Bühne durchzusetzen.
Proteste dagegen sind in Polen laut und verlaufen gleichzeitig zu einer anderen Welle der Empörung: Die polnische Schule hat es offensichtlich satt, eine Sakristei der katholischen Kirche zu sein. Die Lehrer und Schüler protestieren gegen den Erziehungsminister, der eine extrem religionsorientierte Bildungspolitik betreibt und die Schule zu einer ideologischen Erziehungsanstalt macht. Piotr Olszowka
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