An die Front oder an die Rampe!

Zum 100. Geburtstag von Fritz Kortner  ■ Von Margit Knapp Cazzola

Vor dem gewaltsamen Hitlertod war ich aus Deutschland geflohen und kehrte zurück, um viele Jahre dem natürlichen Tode näher.“ So beginnt der Regisseur und Schauspieler Fritz Kortner, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, seine Autobiographie.

In seiner Arbeit wird der „Hitlertod“ eine zentrale Rolle einnehmen — das Entkommen und die Erinnerung daran prägten ihn, erzeugten in ihm den Kampfesgeist gegen die „eigene Unnatur“, der ihn in der Theatergeschichte unseres Jahrhunderts so berüchtigt-berühmt gemacht hatte.

Wien-Berlin

Am 12. Mai 1892 wird Fritz Kortner in Wien geboren.

Seine Kindheit verbrachte er in Wien, wo er unter sechs Geschwistern einer Großfamilie aufwuchs. Der Vater war gelernter Uhrmacher mit einem Laden, Anhänger des k.u.k. Österreichischen und im ständigen Konflikt zwischen jüdischen Gebräuchen und dem freizügigeren bürgerlichen Leben.

Fritz Kortners Schauspielerlaufbahn begann im Wien von Sigmund Freud und Karl Kraus, von Otto Weininger und Peter Altenberg. Er erhielt das Burgtheaterstipendium — eine hohe Auszeichnung und eine beträchtliche finanzielle Hilfe.

Die Burgschauspieler Adolf von Sonnenthal, Bernhard Baumeister und Josef Kainz prägten den Eleven, doch jenes Erlebnis, das ihn erleuchtend und überraschend traf, sein literarisches Interesse weckte und seinen Weg als Regisseur vorbereitete, war ein Gastspiel aus Berlin: Ibsens Gespenster in der Aufführung des Brahmschen Lessingtheaters.

Mit allen Vorurteilen ausgestattet, die im verklärenden Wien der Vorkriegszeit über das preußische Berlin herrschten, war das Staunen des jungen Schauspielschülers über die Berliner Theatermänner Otto Brahm und Max Reinhardt groß und das Erwachen abrupt.

Über Mannheim gelangte Kortner 1911 an das Deutsche Theater in Berlin. Immer wieder jedoch gab es Zerwürfnisse, kehrte er nach Wien zurück.

„Sie gehören ins Burgtheater, nicht ins Massengrab“, befand 1914 ein dem Schauspieler wohlgesonnener Militärarzt. Auch Kortner sah die Sache so: „An die Front oder an die Rampe!“ lautete seine Devise, und er spielte während des Ersten Weltkrieges große Rollen — mit dem Mut der Ausweglosigkeit: den Shylock in Der Kaufmann von Venedig, den König Philipp in Don Carlos und den Franz Moor in Die Räuber. Er stieg zum Prototyp des expressionistischen und republikanischen Schauspiels auf.

William Shakespeare und Friedrich Schiller sind die beiden Klassiker, denen er sich während seiner ganzen Theaterarbeit am meisten widmen wird, neben August Strindberg, Leo Tolstoi und Henrik Ibsen.

Er wurde 1916 am Wiener Deutschen Volkstheater als erster Charakterspieler engagiert.

Nach Kriegsende zog es ihn, wie alle Theaterbesessenen, nach Berlin. Dort spielten die Konkurrenten Werner Krauss, Emil Jannings, Ernst Deutsch. Dort inszenierten Max Reinhardt und Leopold Jessner, der den hitzköpfigen Fritz Kortner nach Berlin holte.

In den zwanziger Jahren entwickelte er sich zur Zugfigur in den expressionistischen Inszenierungen Leopold Jessners am Staatstheater Berlin. Kortner spielte als Geßler ebenfalls in der legendären revolutionären und antinationalistischen Jessenerschen Wilhelm Tell-Inszenierung mit, in der das Publikum — in braun und bunt gespalten — randalierte.

Im Expressionismus waren auch Kortners dämonische Darstellungen in einer Reihe von Stummfilmen verankert. Er arbeitete an manchen Drehbüchern mit, unter anderem für den Spielfilm Der arme Sünder (1931), gemeinsam mit Alfred Polgar. Die Tatsache, daß er beim Film gelandet war, sah er lakonisch. „Nun gab ich mich einer damals obskuren Pioniertätigkeit hin: ich filmte. Mein Regisseur war Harry Piel, der vom Zirkus gekommen war, dann später, als er den Schauspieler in sich entdeckt hatte, dann selber spielte.“

Am Deutschen Theater in Berlin feierte Fritz Kortner die ersten wirklich großen Bühnenerfolge. Hier wirkte er in Bert Brechts Im Dickicht der Städte mit, unter der Regie von Erich Engel. Bert Brecht war einer der wichtigsten und nächsten Theatermacher Deutschlands.

Ein häßlicher Mann?

Was Kortner ein Leben lang quälte, war sein Aussehen. Er fand sich häßlich. Seine Freundinnen, mit denen er Strindbergsche Traumabeziehungen führte, warfen ihm Häßlichkeit vor. Es ging jedoch nicht immer nur um ästhetischen Feinsinn, es ging auch um unverhohlenen Antisemitismus.

Schon sein Lehrer Julius Meixner am Wiener Burgtheater hatte ihm davon abgeraten, mit seinem „Ponim“ (wienerisch-jüdisch für „Gesicht“) zum Theater zu gehen. 1931 — in dem Film Der arme Sünder — wurde sein Gesicht bereits als „rassenfremd“ empfunden. Man scheute sich davor, es auf der Leinwand zu zeigen, und bot dem Schauspieler dafür verstärkt Regiearbeiten an. Obwohl sich Jessner für ihn einsetzte, hielt Kortner dem zunächst getarnten Boykott als Bühnendarsteller nicht stand.

1933 mußte Fritz Kortner emigrieren. Er ging mit seiner Frau Hanna Hofer und den drei Kindern nach Amerika, blieb dort zwölf Jahre lang, in New York und Hollywood. Er versuchte, im amerikanischen Film und im gesellschaftlichen Leben vorwärtszukommen, wobei, wie er selbst fand, nicht Verdienst und Können zählte, sondern eine „roulettischhafte Verteilung des Berufsglücks“. Das Mithalten bei der Brillanz der Partygäste lag ihm nicht, das kastenartige Gesellschaftsleben in Hollywood, über das Bert Brecht beschieden hatte — „reich und reich gesellt sich gern“ — mied Fritz Kortner. Er verbesserte seine schriftstellerischen Versuche, schrieb das Lustspiel Donauwellen, das in München uraufgeführt wurde und einen naiv-genießerischen Mitläufer zur Hauptfigur hat.

Nach Kriegsende ging Kortner zurück nach Deutschland, nach München und Berin. Obwohl er sich schon seit den zwanziger Jahren für Regie interessierte, begann seine eigentliche Inszenierungsarbeit erst nach dem amerikanischen Exil. Er setzte der Tendenz zum Klassizismus und dem „Stil“-Theater der fünfziger Jahre einen widersprüchlichen und bitteren Realismus entgegen. Als Regisseur, der mit seiner Theaterarbeit gegen das Verdrängen des „Hitlertodes“ ankämpfte, wählte er für seine Inszenierungen meist ihm bereits vertraute Autoren — Shakespeare, Schiller, Lessing, Tolstoi, Strindberg, Ibsen.

Keine Helden mehr

Am Münchner Residenztheater inszenierte er eine Reihe von Klassikeraufführungen, die alle die Ablehnung des Heroischen kennzeichneten — keine Helden, keine ungebrochenen Siege.

Fritz Kortner war ein fordernder Mann, radikal und ungestüm. Er haßte den Durchschnitt, also auch den „Durchschnittsschauspieler, dieses Mißgebilde aus falschem Ton, nichtssagender Krampfgebärde“.

Berthold Viertel, mit dem er vor und nach den beiden Weltkriegen engen Kontakt hatte, sagte über ihn: „Der unwirsche Widerstand, der mit ihm geboren ist und sich in seinem wilden Gesichte zur Physiognomie zusammengeballt hat, läßt sich nicht begütigen und nicht bestechen.“

Zur Kortners Nachkriegsinszenierungen — vor allem zu Clavigo in Hamburg — pilgerte die neue Generation der Regisseure. Für Peter Stein, Peter Zadek, Hans Hollmann, Claus Peymann war Fritz Kortner ein entscheidender Lehrer.

1958 fuhr Kortner mit seiner Frau Hanna Hofer für kurze Zeit nach Israel. Es war eine lange Schiffsreise, während der ein Großteil seiner AutobiographieAller Tage Abend entstand. Die Schilderung seines Lebens, der Zeit und der Theaterarbeit ist eine der schönsten Autobiographien der Theatergeschichte dieses Jahrhunderts.

Denn der 1970 verstorbene Schauspieler und Regisseur hat sein Leben in all den verschiedenen Stationen in Österreich, Deutschland und Amerika mit Distanz gesehen, trotzdem rebellisch, klar, mit Selbstverliebtheit und Selbstkritik.

Klaus Völker: Fritz Kortner. Schauspieler und Regisseur , Edition Hentrich, Berlin 1987

Fritz Kortner: Aller Tage Abend , mit einem Nachwort von Klaus Völker, Alexander Verlag, Berlin 1991 (Kindler Verlag München 1959)