Wieder kein Happy-End für die Neuerer

■ »Neues in Wittstock«: Heute Premiere eines neuen Dokumentarfilms von Volker Koepp

Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland«, so sangen wahrscheinlich auch viele Wittstocker vor gut zwei Jahren. Und heute? Findet man Glanz in der märkischen Stadt? Blüht Wittstock? Volker Koepp, DEFA-Dokumentarfilmer, war gut vorbereitet, diesen Fragen nachzugehen. Seit 1974 fuhr er immer wieder in die kleine Stadt nordwestlich von Berlin. Mehrere Filme entstanden, von Mädchen in Wittstock bis Leben in Wittstock, die den Alltag festhalten wollten, vor allem die Veränderungen im Leben von drei Arbeiterinnen aus der größten Fabrik am Ort, einem Trikotagenbetrieb. Jetzt fuhr Koepp wieder hin, noch einmal beauftragt vom Studio für Dokumentarfilme, das jetzt »GmbH« heißt und finanziell unterstützt wird vom französischen Fernsehkanal »La Sept«.

»Sie können fast ganz Wittstock kaufen«, ist eine der ersten Antworten, die Koepp erhält. Die Einheit hat die Freiheit gebracht, sogar die absolute, nun ist alles möglich. Wenn Häuser und Fabriken verscherbelt werden, warum nicht gleich eine ganze Stadt? Edith, Elsbeth und Renate sitzen zusammen und erzählen. Sie sind vertraut mit dem Filmemacher, reden ihn mit du an. Kameranovizinnen sind sie nicht. Aber sie schweigen immer wieder lange. Ihnen hat's die Sprache verschlagen. Die eine war in der Partei, sie zeigt verschämt und zugleich trotzig stolz ihre Auszeichnungen, der zweiten fehlt das Zusammenhalten, die Gemeinsamkeit, die dritte schließlich will sich aufmachen, um ihr Glück im Südwesten der alten Bundesrepublik zu suchen. Von den 2.700 Arbeitsplätzen der Trikotagenfabrik blieben noch 750 übrig - auch das ein Grund für Zurückhaltung: noch ist nicht entschieden, wer wann arbeitslos wird. »Mach den Mund nicht auf, sonst bist du auch dabei.« Ist das die Freiheit, die das Lied meint?

Schön sind die Szenen, in denen die drei Frauen sich selbst auf dem Bildschirm sehen. Zuerst zeigt der Regisseur uns Ausschnitte aus den früheren Filmen — wobei es hilfreich gewesen wäre, die Jahreszahl einzublenden — dann zeigt er, wie die drei darauf reagieren. So sahen sie also damals aus, solche Frisuren, solche Ansichten. »Nach dem Happy-End müßten sie weiterdrehen«, verlangte die 16-jährige damals, doch für sie gab es noch kein Happy- End, und wenn der Filmemacher heute weiterdreht, schaut sie nur sehr skeptisch in das Kamera-Auge.

Die anderen beiden waren früher Neurer, waren überzeugt, daß sie den Laden schmeißen könnten. Sozialistisches Selbstbewußtsein könnte das genannt werden. A propos Neurer: Da sitzt eine der drei Frauen beim Bier. Am anderen Tisch hocken Westler, hergeschickt, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Die Stühle werden zusammengerückt, erste Kontakte geknüpft. »Ja, ich kam vor 18 Jahren aus Sachsen hierher, ich war auch Neurer, fast wie heute.« »Was warst du?« »Neurer.« »Meinst du Erneurer?« »Nee, Neurer.« »Gibt's doch gar nicht, das muß Neuerer heißen, Neu- e-erer, verstehst du?« Von Verstehen kann gar keine Rede sein.

Volker Koepp gehört zu den Dokumentarfilmern, die wohltuend zurückhaltend sind. Er möchte uns nichts aufdrängen, er drückt seine Meinung mit den Mitteln seines Handwerks aus, er stülpt sie nicht den Bildern über, er argumentiert mit ihnen. Da genügt ihm oft ein Schwenk. Wie in jener Szene, in der es um die Jugendlichen in seinem Wittstock-Puzzle geht (die übrigens leider etwas zu kurz kommen in seinem Film). Die jüngeren Wittstocker sind noch vorsichtiger als die ältere Generation. Die Mädchen sprechen schon einmal vor der Kamera, beklagen sich über den Alkoholkonsum der Jungen und daß die immer schnell zuschlagen. Davon redeten die Wittstocker Mädchen schon in den frühen Siebzigern. Und die jungen Männer? »Warum müssen die immer so radikal sein?« fragen die Mädchen und dann: »Aber mit den Ausländern und so, das stimmt ja, was sie sagen, oder nicht?« Mit den kurzgeschorenen, mißtrauisch blickenden Jungen kommt Koepp nicht ins Gespräch. So filmt er denn eine Gruppe von ihnen von der anderen Straßenseite aus. Dort lungerten sie an einer Bushaltestelle herum. Die Kamera verweilt eine Weile auf ihnen und den Graffiti an der Wand, ein Schwenk, wir sehen die Trostlosigkeit der uns (von außen) so vertrauten Plattenbauten. Man spürt förmlich einen kalten Hauch von Feindseligkeit. Ein Schwenk, ein Schwarzweißbild, weiter nichts, zu wenig, um wirklich zu erklären, aber genug für einen Augenblick der Verstörung. Die Karten in dem neuen deutschen Spiel sind schlecht gemischt. 200 junge Frauen bewerben sich auf einen Job als Verkäuferin in einer Boutique, sechs werden angelernt, vielleicht können drei bleiben. Edith, Roswitha und Renate werden es nicht sein, sie können in Wittstock keinen Stich mehr machen. Ob die Karten mehr wissen? Eine Kartenlegerin sagt ihnen die Zukunft: da ein Streit, dort eine Reise. Und die Arbeit? Da lacht die Wahrsagerin: »Die Karte für Arbeitslosigkeit kenne ich noch nicht.« Maximilian Preisler

Neues in Wittstock , Regie und Buch: Volker Koepp. Heute Premiere im Babylon (Ost), 20 Uhr.