KOMMENTAR
: Ein Denkzettel?

■ Die Abstimmung der ÖTV-Basis verweist auf die tiefe soziale Unzufriedenheit

Ein Denkzettel? Die Abstimmung der ÖTV-Basis verweist auf die tiefe soziale Unzufriedenheit

Die ÖTV-Basis hat ihrer Führung in der Urabstimmung einen Denkzettel verpaßt, den diese so schnell nicht vergessen wird. Er hat ungefähr folgenden Wortlaut: „Wenn Ihr uns lauthals für 9,5 Prozent in den Streik führt, wollen wir auch ein entsprechendes Ergebnis sehen — oder wenigstens eines, das unsere streikbedingten Verluste wieder ausgleicht.“ Die Basis hat die Mobilisierungspropaganda der Gewerkschaftsspitze während des Arbeitskampfs offensichtlich viel ernster genommen, als diese gemeint war und fühlt sich nun vom Ergebnis enttäuscht. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Es ist nicht nur das offensichtliche innergewerkschaftliche Kommunikationsproblem, das die Vermittlung des Wünschbaren mit dem Möglichen nicht mehr leistet. Die Urabstimmung zeigt zudem, daß die soziale Unzufriedenheit der abhängig beschäftigten Bevölkerung in Westdeutschland tiefer geht, als es auch von den Gewerkschaften erkannt wurde.

Es ist eine alte gewerkschaftliche Erfahrung, daß man in einen Streik leichter hineinkommt als hinaus. Denn kaum je hat ein Streik die über das real Durchsetzbare hinausgehenden Erwartungen der Mitglieder erfüllt. Insofern ist es keine Seltenheit, daß in Urabstimmungen nach Streiks die Mehrheit nicht erreicht wird. Bei den meisten Gewerkschaften genügt bereits eine Zustimmung von 25 oder 30 Prozent, um ein Verhandlungsergebnis zu billigen. Insofern ist die ÖTV-Führung nun in eine Falle getappt, die ihr mit dem Quorum von 50 Prozent von den eigenen Satzungsbestimmungen gestellt wird. Zwar drückt sich in derartigen Regelungen eine demokratische Qualität im Zusammenwirken von Führung und Basis aus. Aber die müßte durch eine funktionierende innergewerkschaftliche Kommunikation ausgefüllt werden. Daran fehlt es aber bei den Gewerkschaften allzu häufig.

Das Ergebnis der Urabstimmung ist für die ÖTV-Führung schwer handhabbar. Denn an dem Tarifkompromiß läßt sich nichts mehr ändern, weil er das Äußerste war, was unter den gegebenen Bedingungen durchgesetzt werden konnte. Dennoch war und ist der erzielte Tarifkompromiß nach wie vor ein „politischer Erfolg“. Dieser Erfolg setzt sich, wenngleich in einer für die ÖTV-Führung unangenehmen Weise, auch im Ergebnis der Urabstimmung fort: Den öffentlichen Arbeitgebern und den sie unterstützenden Medien ist das Argument aus der Hand geschlagen, die Basis sei von einer machtbesessenen, maßlosen Führung in den Streik getrieben worden. Die Arbeitgeber sind mit ihrem Versuch gescheitert, im Machtkampf mit den Gewerkschaften die sozialen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik grundlegend zu ihren Gunsten zu verändern. Martin Kempe