„Die Besonderheiten müssen bleiben“

Am Wochenende findet der Parteitag der Grünen statt — in Ost-Berlin/ Mit Spannung wird die Debatte über eine gemeinsame Politik der Grünen mit der Bürgerbewegung des Bündnis 90 erwartet  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) — Einen „inhaltlich- programmatischen Erneuerungsprozeß“ haben sich die Grünen verordnet, Anfang Februar, beim ersten Länderrat in Kassel. An diesem Wochenende droht schon der Ernstfall für das Vorhaben. Parteitag der Grünen an traditionsreichem Ort: Dynamo-Sporthalle, Berlin (Ost).

Die umfangreiche Tagesordnung sieht Debatten und Beschlüsse zur Einwanderungs- und Flüchtlingsproblematik, zum ökologischen und ökonomischen Neuaufbau im Osten, zu Europa sowie zur Ökologiepolitik vor dem Rio-Gipfel vor. Auch Satzungsfragen stehen wieder ins Haus, nachdem die grüne Strukturreform vor einem Jahr auf dem letzten Parteitag in Neumünster erst mal auf halbem Wege steckengeblieben war. Im Zentrum des öffentlichen Interesses wird voraussichtlich die Debatte und Beschlußfassung zur gemeinsamen Perspektive der Grünen mit der Bürgerbewegung des Bündnis 90 stehen. Erst im Hinblick auf eine gemeinsame Organisation und als entgegenkommende Reaktion auf die Kritik der Bürgerrechtler an den Grünen war der Kasseler Erneuerungsbeschluß zustande gekommen.

Und in der Tat, an grünen Krisensymptomen besteht kein Mangel: Die inhaltliche und personelle Auszehrung der Landesverbände, die rot-grüne Selbstbescheidung, der Verlust an Ausstrahlung, ein politisches Innovationsvakuum, das in völliger Absence der Bonner Parteispitze bei nahezu allen politischen Debatten des letzten Jahres seinen sinnfälligsten Ausdruck findet. All das läßt die in Kassel avisierte Reform, parallel zur organisatorischen Neukonstituierung mit den ostdeutschen Bürgerrechtlern, plausibel erscheinen.

Doch in dem Vierteljahr seit Kassel ist einiges passiert: Die Bundesgrünen haben neues Selbstbewußtsein getankt, der Schock der Bundestagswahl ist verdaut: Passable Umfrageergebnisse, das Abschneiden bei den letzten Landtagswahlen, die grassierende Krise der Großparteien und der verbreitete Verlustschmerz— Bonn ohne Grün — bieten Anlaß zur innerparteilichen Hoffnung. Die nächste Wahl erscheint einigen schon fast als Selbstläufer.

Vor diesem Hintergrund hält sich dann auch die Überraschung bei der Lektüre des Leitantrages für den heute beginnenden Parteitag „Grüne und Bürgerbewegungen“ in Grenzen: Vom Kasseler Erneuerungswillen ist wenig zu spüren, von inhaltlicher Erneuerung ist nicht mehr die Rede. „Der Zusammenschluß beider Organisationen bietet“, so der Antrag des Bundesvorstandes, „die große Chance, ein gesamtdeutsches Projekt zu entwickeln, das den Geist der Bewegung atmet und die Kraft zur politischen Innovation besitzt.“ Dann die Einschränkung: „Die Besonderheiten beider Partner müssen bewahrt bleiben.“

Auch das im Kasseler Beschluß enthaltene Vorhaben einer „offenen Aufarbeitung der Deutschland-, Ost-, West- und Menschenrechtspolitik der Grünen“, das die Bürgerrechtler als Voraussetzung gedeihlicher Partnerschaft damals eingeklagt hatten, findet sich im aktuellen Leitantrag nicht mehr. Statt dessen ein eher selbstzufriedener Blick in die Vergangenheit: „Die Grünen haben sich von Anfang an bezogen auf die grünen und bürgerbewegten Kräfte im Osten.“ 1980? 1990? Die Differenzen in der Vergangenheit jedenfalls, die Tatsache, daß der Bezug zur Bürgerbewegung zu Zeiten der DDR innerhalb der Grünen eher umstritten war, wird im Leitantrag unter dem gemeinschaftsstiftenden Begriff „Opposition“ eher zugedeckt denn erinnert. Opposition im Westen gegen „Wachstumskonzepte“ und „Allparteienkartell“, im Osten gegen „ein totalitäres Regime“.

Doch auch beim Bündnis hat sich die Sichtweise auf die künftigen Partner aus dem Westen verändert. Mittlerweile rücken auch im Osten eher die Gemeinsamkeiten mit den künftigen Parteifreunden ins Blickfeld. Seit dem Bündnis-Parteitag vor zwei Wochen gelten die Ökopaxe als „authentischer Partner“ des Bündnisses.

Über eine gemeinsame organisatorische Neukonstituierung des ökologisch-bürgerrechtlichen Spektrums in Deutschland wird, so der Beschluß der Delegiertenkonferenz, exklusiv mit den Grünen verhandelt, was Gespräche mit weiteren interessierten Personen und Gruppierungen nicht ausschließt.

Relevante Gruppierungen jenseits der Grünen sind in der Tat nicht in Sicht. Doch angesichts des neuen Harmoniekurses, in den das eindeutige Signal „für Grün“ eingebettet wurde, haben die lange umworbenen, lange zögernden Bürgerrechtler ihr Gewicht für die bevorstehenden Verhandlungen reduziert. „Wir sind froh, daß ihr jetzt dazukommt“, hatte Grünen-Parteichef Ludger Volmer den Bündnis-Parteitag im Ergebnis kommentiert und zugleich die vom Bündnis geforderte Gremienparität abgelehnt.

Die Forderung ist in der Tat nicht unproblematisch. Sie soll den Einfluß des kleineren Partners in der neuen Organisation garantieren. Doch über die Frage, was das Bündnis in das gemeinsame Projekt einbringen kann, entscheidet nicht die paritätische Besetzung des Vorstandes. Auf der Schutzklausel muß bestehen, wer befürchtet, unter normalen, demokratischen Bedingungen „geschluckt“ zu werden. Darüber aber entscheidet — Parität hin oder her — die Bereitschaft der Grünen, sich neuen Impulsen aus der Bürgerrechtsbewegung zu öffnen. Eine Vorentscheidung darüber, ob das Zusammengehen nur eine pragmatisch gebotene Option darstellt oder am Ende doch als Herausforderung zur grünen Erneuerung begriffen wird, fällt auf dem Parteitag in Berlin.