Wer hat das letzte Wort?

■ Die Basis hat nur über das Verhandlungsergebnis abgestimmt, nicht über die Fortsetzung des Streiks

Berlin (taz) — Die ÖTV-Mitglieder haben ihrem Vorstand mit dem Ergebnis der Urabstimmung die rote Karte gezeigt. Denn der von der ÖTV-Verhandlungskommission ausgehandelte Tarifkompromiß hätte von der Gewerkschaft nur dann in Kraft gesetzt werden können, wenn mehr als fünfzig Prozent dem Kompromißpaket von 5,4 Prozent plus einem je nach Einkommensgruppe gestaffelten einmaligen Betrag zugestimmt hätten. So jedenfalls steht es in den „Richtlinien der Gewerkschaft ÖTV über Urabstimmung und Arbeitskämpfe“.

In Abschnitt I.11. heißt es dort unmißverständlich: „Wird ein Verhandlungsergebnis erzielt, das nicht den gewerkschaftlichen Forderungen bei Einleitung der Urabstimmung entspricht, so ist für die Annahme des Ergebnisses eine neue Urabstimmung erforderlich. Für die Annahme des Ergebnisses müssen mehr als 50 Prozent der an der Abstimmung Beteiligten stimmen.“

Nach dem Scheitern der Schlichtung hat die ÖTV unter ihren Mitgliedern eine Urabstimmung durchgeführt, ob sie für die Durchsetzung der ursprünglichen Gewerkschaftsforderung von 9,5 Prozent in den Streik treten wollen. Während des Arbeitskampfes betonte die ÖTV-Führung immer wieder, es werde nicht für den Schlichterspruch gestreikt, sondern für die 9,5 Prozent. Das Ergebnis jedoch lehnte sich deutlich an den Schlichterspruch an, der lediglich durch eine „soziale Komponente“ variiert wurde. Die zweite Urabstimmung war also notwendig.

Mit dem mehrheitlich ablehnenden Votum der Gewerkschaftsmitglieder wird der Vorstand vorerst daran gehindert, seine Unterschrift unter den ausgehandelten Tarifvertrag zu setzen. Er ist allerdings nicht gezwungen, den Arbeitskampf wiederaufzunehmen. Im Abschnitt II.5. der Richtlinien werden dem geschäftsführenden Hauptvorstand der ÖTV weitreichende Vollmachten für die Beendigung eines Streiks eingeräumt. Darin heißt es: „Ist das Kampfziel erreicht oder eine weitere Durchführung des Streiks nicht zweckdienlich, so beschließt der geschäftsführende Hauptvorstand den Zeitpunkt der Beendigung des Kampfes.“ Zwar wurde das Kampfziel 9,5 Prozent nicht erreicht, aber die ÖTV-Spitze war sich nach Erreichen des Kompromisses offensichtlich einig, daß ein verbessertes Ergebnis nun nicht mehr erreichbar sei, die „weitere Durchführung des Streiks“ also nicht zweckdienlich sei. Der Hauptvorstand machte also von seinem Recht Gebrauch, den Arbeitskampf für beendet zu erklären.

Zwar steht in der Richtlinie ergänzend, er könne „seinen Beschluß von dem Ergebnis einer Urabstimmung abhängig machen“, für die dieselben Quoren gelten wie für die Urabstimmung über das Tarifergebnis selbst. Aber von dieser Kann-Bestimmung hat er gerade keinen Gebrauch gemacht: Die jetzige Urabstimmung bezog sich allein auf das Tarifergebnis, nicht auf die Frage, ob der Streik weitergeführt werden soll oder nicht. Denn diese Frage kann sinnvoll nur gestellt werden, wenn der Streik nicht — wie geschehen — vorher schon beendet worden ist.

Damit verpflichtet die verlorene Urabstimmung den geschäftsführenden Hauptvorstand der ÖTV nicht zur Wiederaufnahme des Streiks, sondern nur dazu, Möglichkeiten zur Verbesserung des ausgehandelten Ergebnisses zu prüfen und auszuschöpfen. Gibt es diese Möglichkeiten nicht, was offensichtlich ist, wird er schließlich den ausgehandelten Tarifkompromiß in Kraft setzen. Martin Kempe