Alles Gold, was glänzt

Orgien, Orden, Odalisken: Jerome Savary inszeniert Rossinis „Italienerin“ in Götz Friedrichs Schwimmbad  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Immer, wenn die ersten Töne einer frühen Rossini-Oper aus dem Graben purzeln, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren. Die Ouvertüre zum Beispiel zur Italienerin in Algier (1813) ist „herrlich, aber ein wenig zu lustig“ — das fand schon Stendhal alias Henri Beyle (1824). Und weiter meinte er, das sei „ein großer Fehler“.

Wieso ein Fehler? Was kann falsch sein an einem Slapstick? ‘Pling pling pling dingeling' zupfen dünn die Geigen — 'pladeratsch' knallt der Forteschlag drein, und schon haben wir die erste Torte im Gesicht. Wenn dann die Holzbläser eifrig losquieken wie ein ganzes Nest verliebter Mickymäuse, wenn die Bässe yogibärenstark ihr Tanzbein schwingen und die kleine Pikkoloflöte so tut, als sei ausgerechnet sie hier der erste Koloratursopran am Platze — dann reicht das Lachen schon von einem Ohr zum anderen. Gegen Ende gar, wenn die Orchesterpracht mit tausend Schellen und Trommeln in die Zielgerade der letzten Stretta einläuft — da wird das ganze Leben unweigerlich unheimlich schön, alle Hände zucken wie von selbst zum ersten, donnernden Applaus und der Abend ist ein Göttergeschenk, bevor noch der Vorhang aufgeht.

Er hätte auch ebenso gut den ganzen Abend geschlossen bleiben können. Womit nichts gesagt sein soll gegen die vielen bunten Bilder, die sich Jerome Savary für die neue Italienerin an der Deutschen Oper Berlin ausgedacht hat. So blau war der mediterrane Bühnenhimmel wahrhaftig noch nie: blaut erst licht wie morgens um sieben, blaut dann azzurro wie zur Siesta und kobalt und aquamarin und immer dunkler bis ins Sturmviolette, weil ja das Schiff mit der schönen Italienerin endlich an dieser Küste stranden muß, wo sie schon sehnlichst erwartet wird. Von ihrem Geliebten natürlich, der rein zufällig gerade hier als Gefangener weilt und schon eine erste wildromantische Arie mit vielen Trillern und Verzierungen absolvieren durfte. Von Mustafa Bey, dem Baß und Beherrscher des Harems, der das landesüblich süße Männerleben gründlich satt und wortreich erklärt hat, er sei nur noch scharf auf eine emanzipierte Europäerin. Der Harem freilich macht sich nichts daraus und hurt fröhlich weiter: rechts dampft es aus dem türkischen Bad, links schwellen die Seidenkissen, in denen lasziv die Lieblingsfrau lagert, ringsum hüpfen ausgelassen im kurzen Röckchen rudelweise die Eunuchen — und an üppigen Odalisken, die barfuß und überhaupt ziemlich bar an Bekleidung in allen Ecken herumbalzen und den Bauchtanz üben, ist ohnehin kein Mangel. Was sonst noch passiert und wie die Geschichte dann weitergeht, ist dagegen völlig egal. Wie es geschieht, das ist die Story. Bis ins winzigste, liebevolle Detail kommen die Klischees der Klamotte zum Klappen: jawohl, die Italienerin ist genauso blond und bonbonrosa wie ein ganzes Jahresabonnement der 'Vogue‘. Der Ober- Eunuch ist original so fett wie in Tausendundeinernacht, der kleine Mohr so süß wie Sarotti und alles gold, was glänzt.

Jeder da droben gibt mit Kunst und Hingabe eine Karikatur der eigenen Rolle. Mann und Frau singen sich nie an, man singt immer ins Publikum. Das weiß, es soll sich amüsieren. Die da oben wissen, wie man in einer zünftigen commedia dell'arte dafür zu sorgen hat. Sie rollen hochdramatisch die Augen, ziehen wilde Grimassen, weinen und lachen laut bis hinauf auf den zweiten Rang, husten und stolpern und schlagen sich heftig an die Brust. Alle miteinander haben sie ihr diebisches Vergnügen an der Sache. Haben aber auch alle Füße und Hände voll zu tun, das Tempo durchzuhalten und zu steigern — bis schließlich je zum Ende des Aktes das tollwütige Toben vollends kollabiert, bis die fälligen Orden verteilt, die Paare sortiert werden können und der optische Overkill im wahrsten Sinne des Wortes seine finale Orgie feiert.

Savary hat das Regietheater zum Teufel gejagt und eine werktreue Inszenierung auf die Beine gestellt. Ähnlich wüst, wenn auch nicht halb so perfekt, muß es weiland bei der Uraufführung der Italienerin im Teatro San Benedetto in Venedig zugegangen sein. Und damals wie heute fanden viele deutsche Opernfreunde diesen brüllenden Blödsinn kein bißchen komisch. Nicht historisch-kritisch genug oder nicht aktuell-intellektuell durchdrungen, geschmacklos in jedem Falle und viel zu kitschig-banal sowieso. Sie haben damit selbstverständlich völlig Recht: es ist eine Zumutung, vom Publikum zu verlangen, daß es zweieinhalb Stunden still sitzen und nur seinen Spaß haben soll — so eine doppelte Kurpackung an passivem Amüsement ist weitaus anstrengender zu verarbeiten als jede Podiumsdiskussion. Wenigstens hätte die Direktion, wenn schon nicht die didaktischen Fingerzeige zum besseren Verständnis, pro Eintrittskarte eine Flasche Champagner mit auf den Weg geben sollen durch diesen absurden Musikzirkus.

Die Musik allerdings lief als Zirkusmusik nebenher. Oder sollte es besser heißen: der ganze Savary'sche Zirkus war an sich überflüssig bei solcher Musik? Mit der Handlung haben die Noten dieser Oper ohnehin wenig zu tun: die Musik trägt sich selbst von Höhepunkt zu Höhepunkt. Sie trägt, selbstverliebt und in schwindelerregendem Taumel, auch ohne jede visuelle Zutat zum allgemeinen kathartischen Wohlbefinden bei — und sie würde wahrscheinlich sogar noch besser wirken ohne das reiche Flitterwerk dieser überdimensionierten Inszenierung. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin spielte unter der Leitung von Carlo Rizzi so himmlisch flink und beschwipst, als sei es soeben komplett vom Karneval in Venedig zurückgekehrt. Der Männerchor allein war an Präzision und Wohlklang schon die halbe Miete; das Sängerpersonal leider mit zwei Ausnahmen (Aimée Willis und Manfred Röhrl) nicht gerade die Traumbesetzung — aber was den Stimmen an lichter Höhe und dunklem Glanz abging, wurde immerhin sauber kompensiert durch schauspielerischen Elan. Und doch blieb auch musikalisch bei dieser Premiere ein Rest an Ungereimtheit, der bei Rossini nicht sein soll. Mag sein, die Bilder schlugen die Musik tot. Mag sein, es gibt doch diesen haarfeinen Unterschied zwischen Lustspiel und Leichtsinn, zwischen gewollter Klamotte und authentischer Komik, die keines Ausrufezeichens bedarf.

Oder aber: Die Pointen hatten noch zu viel Platz. Ein Kleinod wie die Italienerin, auch wenn sie längst zum internationalen Repertoire gehört, braucht vielleicht doch die Grenzen eines intimen italienischen Logentheaters und säuft, so oder so, ab in den uferlosen Weiten eines Schwimmbads vom Format der Deutschen Oper an der Bismarckstraße. „Das Haus ist zu groß“ — hat Gioacchino Rossini im Jahre 1856 im Gespräch mit Ferdinand Hiller über den Neubau der Pariser Oper gesagt: „Ich verabscheue überhaupt diese allzu großen Häuser. Sie töten alles. Der Einfluß der Lokalität ist gar nicht stark genug zu veranschlagen. Versetzen Sie das Orchester des Conservatoire mit all seiner Herrlichkeit in die Große Oper — es wird nicht mal zu erkennen sein.“

Die Herrlichkeiten der Italienerin waren, zumindest bei geschlossenen Augen, immerhin noch zu ahnen.

Gioacchino Rossini: Die Italienerin in Algier . Regie: Jerome Savary; Bühne: Serge Marzolff, Kostüme: Michel Dussarrat; Chöre: Georg Metz; Musikalische Leitung: Carlo Rizzi. Mit Mariana Cioromila, Aimée Willis, Gregory Kunde, Manfred Röhrl, Nicola Ghiuselev u.a. (Intendanz Götz Friedrich). Weitere Aufführungen in der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße, am 18., 20. und 26. Mai, jeweils 19 Uhr 30.